Eingekapselte Gefühle

Brüllendes oder schweigendes Elend: Das Nachkriegsstück „Früchte des Nichts“ von Ferdinand Bruckner im Hamburger Thalia Theater führt in verödete Seelenlandschaften

Fürs Schießen eine winzige Kleinigkeit zu spät auf die Welt gekommen

„Mir ist so zum Schreien“, flüstert Creszenz (Claudia Renner) verzweifelt. Ihrem Namen nach müsste Creszenz’ Stimme in einem gewaltigen Crescendo zu einem immensen Klageton anschwellen. Müsste. Kann sie aber nicht. Denn im Stück Früchte des Nichts von Ferdinand Bruckner (1891–1958), angesiedelt im Jahr 1948, geht es um die „Gefühlsabschaffung“ in Deutschland drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Premiere hatte das Stück vergangenen Samstag im Thalia Theater. Vier junge Menschen stolpern darin ziellos über die schmale Bühne (Bühnenbild: Maria-Alice Bahra). Foss (Andreas Döhler), sartre’sch schwarz-weiß gekleidet, sucht Halt in existenzialistischen Theoremen und weiß, dass diese Ziellosigkeit „von der unglaublichen Einsamkeit in uns allen kommt“.

Sein Klassenkamerad Gert (Thomas Schmauser), stets im posttraumatischen Stress, schweißnasses Haar, wagt es, seiner „Mama“ Sophie (Sandra Flubacher) gegenüber sein Trauma wütend zur Sprache zu bringen: „Mein Vater wurde von einer Fliegerbombe zerfetzt“. Sophie wehrt das Unaushaltbare rigoros ab: „Halt den Mund!“ Stattdessen stapelt sie in gewissenhafter Ablenkung die billigen, weißen Plastikgartenstühle übereinander: Aufräumarbeit ohne Aufarbeitung.

Der steifbeinige Kriegsveteran Gries (Hartmut Schories) sitzt unterdessen bräsig auf einem dieser Stühle, beobachtet das Treiben teilnahmslos, wie von außen, plappert unverstandene Phrasen von moderner Welt und lässt als Polizeibeamter den „verrückten“ Pulsaderaufschneider Foss jagen. Mit schlichten Gesten zeigt die Regisseurin Christiane Pohle die eingekapselten Gefühlswelten dieser Kriegsgeneration, beherrscht von Verletzung, Tabu und Aggression.

Gert will immer nur essen, braucht in seiner Bedürftigkeit aber eigentlich Seelenfutter. „Unser täglich Brot gib uns heute“, fleht er. Doch als Jünger Nietzsches dessen Credo vom toten Gott anhängend, darf er sich keinen spirituellen Trost leisten. Auch nicht, als Creszenz ihn aus der Plastiksachlichkeit herausführt, hinauf in „die Berge, wo die Liebe zu Hause ist, in die absolute Bedingungslosigkeit“.

Krachend fällt in diesem Moment die riesige, hölzerne Rückwand der bisher engen Bühne nach hinten und eröffnet eine nebelige Weite, das schwarze Loch. Es könnte Gert nähren, doch er würgt die Freundin Creszenz, bis sie leblos zusammenbricht. Wie er auch den Fahrer erschießt, der sie eigentlich ins lebensfrohe Italien bringen sollte. Dazu schlüpfen die Figuren von der Bühne und kehren im Film wieder, gebeamt auf die mächtige, Klaustrophobie auslösende Rückwand: als vergnügte Picknickrunde vor der Tiroler-Berge-Fotowand, als brüllende, raufende Clique, als schweigendes Elend.

Stimmungsvolle Bilder schafft Bernd Zander in dem Video, zum Beispiel, wenn die nächtlichen, regennassen Mittelstreifen der Autobahn im meditativen Rhythmus über die Leinwand flitzen, aus dem Auto heraus gefilmt.

Bis Gerts Schuss die friedliche Stimmung zerfetzt. Weil er, mehr noch als essen, „schießen wollte, all die Zeit, da es gang und gäbe war. Gerade als die Reihe an uns kam, da sollte es plötzlich nicht mehr erlaubt sein? Nur weil wir eine Kleinigkeit zu spät auf die Welt kamen?“

Unbequeme, brutale Fragen wirft Früchte des Nichts auf. Mit großer Authentizität wurde dies alles auf die Bühne gebracht. Konfrontierend und zum Glück ohne Lösungen – zum Weiterdenken. Katrin Jäger

Weitere Vorstellungen von Ferdinand Bruckners „Früchte des Nichts“: 9., 10., 13. und 14. November, jeweils um 20 Uhr, Thalia Theater, Hamburg