Freiräume für Natur-Träume

Die westdeutsche Einschätzung vom „ökologischen Kollaps“ in den ostdeutschen Gebieten schuf Handlungsdruck. Auf der letzten Sitzung der DDR-Ministerrats gab es grünes Licht: Der Wende-Coup für ein Nationalparkprogramm war gelungen

VON HEIKO GARRETTS

Nach dem Mauerfall gelang es Akteuren des Naturschutzes in der DDR im Zuge des so genannten Nationalparkprogramms insgesamt 9,6 Prozent der Landesfläche zu Großschutzgebieten verbindlich im Einigungsvertrag festzusetzen. In Ausmaß und Tempo übertreffen diese – aus heutiger Sicht spektakulären – Schutzgebietsausweisungen sämtliche staatliche Naturschutzaktivitäten in den zurückliegenden 100 Jahren. Ziel war es, das „Tafelsilber der Einheit“ vor Vermarktung und Zersiedelung zu bewahren. Die Umbruchsituation erwies sich als Laboratorium für neue Politiken, deren Folgen auch in Gesamtdeutschland bis heute bemerkbar sind.

Naturschutz hatte es in der DDR immer gegeben, doch war eine kritische, öffentlichwirksame Arbeit vor 1989 nicht zugelassen. Nationalparks wurden in der offiziellen DDR als Erfindung des „amerikanischen Klassenfeindes“ abgelehnt – obwohl es diese Art Gebiete auch in sozialistischen Nachbarländern gab. Das Sammeln naturkundlicher Daten hingegen galt in Ostdeutschland als harmlos und wurde engagiert betrieben, teilweise auch in denjenigen schützenswerten Landschaften, die zuvor als Grenzsperrgebiete, Truppenübungsplätze oder Staatsjagdgebiete von intensiver Landnutzung ausgeklammert gewesen waren. Sie stellten damit letzte unberührte und unzerschnittene Naturlandschaften in Mitteleuropa dar. Diese drohten im Zuge des Einheitsbooms „unter den Hammer“ des Tourismus und der wirtschaftlichen Nutzung zu fallen. Vor allem durch die jahrzehntelange ehrenamtliche Arbeit lagen wichtige Daten zur Gebietsauswahl und -zonierung 1989/1990 sofort vor. Vier der fünf Nationalparks und vier der sechs Biosphärenreservate, die 1990 verwirklicht wurden, waren bereits 1976 bekannt, die Konzepte warteten förmlich in der Schublade auf ihre Realisierung.

Die politischen Rahmenbedingungen in der Wendezeit erwiesen sich als günstig: In der entscheidenden Phase blieb größerer Widerstand aus. Die staatliche, hierarchisch organisierte Forstverwaltung war gelähmt. Die Wasserwirtschaft war nicht an der Aufarbeitung eigener Vergangenheit interessiert und hielt still. Systembedingt fehlte privaten Investoren noch der Zugriff auf die Naturflächen im Volkseigentum.

Die verzerrte Wahrnehmung der Umweltprobleme der DDR tat ein Übriges. Mit der Maueröffnung interessierten sich insbesondere die westlichen Massenmedien weniger für die positiven umweltpolitischen Aspekte der DDR wie das geringere Abfallaufkommen. Vielmehr war vom „ökologischen Kollaps“ die Rede, von den Problemen mit den Umweltgütern Wasser und Luft in stark urbanisierten Regionen. Diese Darstellung und eine entsprechende Resonanz in der Bevölkerung schuf einen starken Handlungsdruck – ein wichtiger Grund für die schließliche Zustimmung zum Nationalparkprogramm in der letzten Ministerratssitzung am 16. März 1990. Zuvor war schnell die Naturschutz- aus der Forstverwaltung herausgelöst worden.

Nur im Naturschutz wurden nach Mauerfall (rund 1.000!) neue staatliche Stellen geschaffen. Netzwerke ehrenamtlicher Naturschützer in den Regionen wurden mobilisiert und ermöglichten unbürokratisches Handeln – man kannte sich. Gleichzeitig konnte der noch bestehende zentralistische Ost-Berliner Machtapparat genutzt werden. Nicht zu vergessen ist der juristische Beistand aus dem Bonner Umweltministerium. Der mit dem Transformationsprozess verbundene Funktionsverlust großer Flächen wurde zur Chance zur Neugestaltung und zu nachhaltigem Wirtschaften. Das ostdeutsche Modell der Großschutzgebiete ist heute auch für westdeutsche Regionen von Relevanz. In der Naturschutzpolitik wurde Ost-Deutschland trotz Inkorporation keine Kopie der Bundesrepublik. Seltene Freiräume wurden für eigene Entwicklungsalternativen genutzt.

HEIKO GARRETTS (39) arbeitet bei der Forschungsstelle Naturschutzpolitik der Uni Göttingen