Auch ein verlassener Osten hätte Charme

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um den Solidarpakt II infrage zu stellen und ganz neu zu formulieren. Die Solidarität des Westens kann nur mit klaren Gegenleistungen erworben werden. Sonst ist Deutschland in 15 Jahren keinen Schritt weiter als heute

VON ANTJE SIRLESCHTOV

Alles wird gut in einer Generation, sagt Wolfgang Thierse, oberster Staatsrepräsentant der neuen Länder. Mit dem Solidarpakt II fließen ab Januar 2005 noch mal 15 Jahre lang 156 Milliarden Euro in Richtung Osten, mit der Arbeitsmarktreform Hartz IV haben die Ostler der Regierung gerade erst zusätzliches Geld abgepresst. Und der nationale Feiertag am 3. Oktober ist nun auch gerettet. Müssen wir nun nur noch geduldig darauf warten, dass sich Helmut Kohls Prophezeiungen von den „blühenden Landschaften“ endlich erfüllen? Vielleicht für die Kinder derer, die einst an der Mauer gerüttelt haben?

Natürlich wird nichts gut. Als sich die Regierungen von Bund und Ländern vor drei Jahren mit der Frage beschäftigten, ob und wie der Osten ökonomisch auf die Beine kommen kann, als sie den Solidarpakt II aushandelten, da träumte Deutschland noch vom Ewigkeitsgesetz der Wohlstandsverteilung unserer Wachstumsgewinne. Man glaubte, nur ein bisschen herumreformieren zu müssen, damit die westdeutsche Ökonomiemaschine wieder rund läuft und Milliarden für den Osten ausspuckt. Heute ahnen wir, dass die Abschaffung der Eigenheimzulage nicht die letzte aller Veränderungen sein wird und die Krisen bei Karstadt und Opel erst der Anfang. Warum also sollte sich ausgerechnet der Osten in Sicherheit wiegen können?

Genau betrachtet ist auch dieser Solidarpakt eine gigantische Umverteilungsmaschine, die in den westdeutschen Regionen ein Reinvestieren der dort erarbeiteten Gewinne verhindert. Kein durch eigene Anstrengung erworbenes Zubrot, sondern eine Sozialleistung mit Rechtsanspruch. Städte wie Dortmund spüren bereits jetzt, was diese Gabe bedeutet: Sie müssen Kredite zum Bau von Kindertagesstätten aufnehmen, während der Ertrag ihrer Arbeit Arbeitsplätze von Erzieherinnen in Cottbus sichert. Es braucht keiner Propheten, um zu wissen, dass es nur wenige Jahre dauern wird, bis die so genannte Solidarität in nackte Konkurrenz umschlägt. Wenn westdeutsche Politiker heute die Osttransfers kritisieren, achten sie peinlich darauf, sich verbal nicht im Grundsatz an der deutschen Einheit zu versündigen. Die nächste Generation wird sich um solche historischen Höflichkeiten nicht mehr scheren.

Ökonomen und einzelne Politiker schlagen deshalb vor, den Solidarpakt II aufzuschnüren und vollkommen zu verändern. Tatsächlich ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Nirgends sonst in Deutschland spüren die Menschen so deutlich wie in Ostdeutschland, dass die Spirale aus niedrigen Wachstumsraten der Wirtschaft und dauerhaften Notkürzungen in den öffentlichen Haushalten keine Lösung sein kann. Wenn es jemals wahr gewesen sein sollte, dass der Aufbauprozess den Osten zu einer modellhaften Region im ganzen Land werden lasse, muss das in den nächsten Jahren bewiesen werden. Denn die Alternative ist überdeutlich absehbar: Bleibt alles so, wie verabredet, stehen wir in 15 Jahren noch immer da, wo wir heute sind. Will man sich im Jahr 2020 noch immer als Bittsteller darauf berufen, einstmals heroisch die deutsche Einheit herbeigeführt zu haben?

Worüber nachzudenken ist, liegt auf der Hand: Welche Aufgaben kann die Gesellschaft in Zukunft noch tragen, wenn die Demografie zwangsläufig aus jedem jungen Menschen ein knappes Gut und damit eine gesuchte Arbeitskraft machen wird? Ausbluten nennen es heute schon sorgenvoll die Politiker im Osten und warnen vor den Folgen für die Regionen. Doch ist es nicht menschlicher, die Jungen dorthin gehen zu lassen, wo sie für ihr Leben selbst sorgen können? Und was ist mit denen, die heute 50 sind und seit 14 Jahren von ABM zu ABM ziehen: Sollen sie sich bis zur Rente als Mitglieder der Gesellschaft fühlen, die mit Sozialleistungen ruhig gestellt werden? Zwangsläufig führen diese Fragen zu der Erkenntnis, dass es bald überall in Ostdeutschland Orte geben wird, in denen niemand mehr Einkommen bezieht, das nicht vom Staat finanziert wird.

In der ganzen Görlitz leben nicht mal mehr 17 Prozent Menschen unter 20. Doppelt so viele wären für wirtschaftliche Eigenständigkeit nötig. In Sachsen-Anhalt, Teilen Mecklenburgs und Brandenburgs sieht es noch schlimmer aus. Muss aber dort durch Straßenbau und Investitionszulagen auch in Zukunft das Gefühl vermittelt werden, es werde schon irgendwann mal ein großer Investor auftauchen?

Gerade die deutschen Regionen östlich der Elbe sind – mit wenigen Ausnahmen – historisch dünn besiedelt und ohne industriell-gewerbliche Tradition. Ihrer Faszination hat das zu keiner Zeit Abbruch getan. Es wäre also nur folgerichtig, wenn sich die Regierungen der ostdeutschen Länder jetzt mit der Frage befassen, welche Straßen das Land überhaupt noch brauchen wird und welche Perspektiven die Bewohner von Orten haben, für die es sich bei Lichte besehen irgendwann nicht mal mehr lohnen wird, Wasserleitungen zu reparieren.

Für die föderale Struktur hat das gravierende Auswirkungen. Schon jetzt wissen die Finanzminister in den ostdeutschen Ländern, dass ihnen spätestens ab 2009 der nach Einwohnerzahl aufgeschlüsselte und allein durch den Solidarpakt in seinen Folgen abgemilderte innerdeutsche Finanzausgleich Massenentlassungen im öffentlichen Dienst bescheren wird. Zwangsläufig wird man sich von Stadtverwaltungen und Kreisbehörden verabschieden müssen. Die Fusion von Bundesländern ist der nächste Schritt. Die Schuldenquoten aller ostdeutschen Länder – außer Sachsen – ist schon jetzt dort angelangt, wo Haushälter den Gang Bremens, des Saarlandes und Berlins zum Verfassungsgericht ganz genau berechnen können. Wozu auch braucht ein Landstrich, kaum größer als Bayern oder Nordrhein-Westfalen, sechs Regierungsapparate?

Freilich wäre es naiv, von Politikern zu erwarten, dass sie quasi ihre Selbstabschaffung organisieren. Die Fusionsgeschichte Berlins und Brandenburgs zeigt, dass so etwas nicht funktioniert. Gerade deshalb ist es jetzt umso wichtiger, das Tabu zu brechen und den Solidarpakt II infrage zu stellen. Möglicherweise können das die Verantwortlichen der letzten 15 Jahre nicht mehr, weil es ihnen wie Verrat an der Einheit und damit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland vorkommt, wenn die Solidarität des Westens mit klaren Gegenleistungen verbunden und damit Anreize für Veränderungen gegeben werden. Notwendig ist es trotzdem. Für die nächste Generation.

ANTJE SIRLESCHTOV ist Redakteurin beim „Tagesspiegel“