Macht ist abwählbar

In Serbien reicht es nicht, die ruinierte Wirtschaft und das politische System zu reformieren. Bürger und Politiker müssen sich an die neuen Spielregeln gewöhnen

Die seit zwölf Jahren gepeinigte Bevölkerung ist anfällig für billigen national-sozialen Populismus geworden

Serbien hat keinen Präsidenten, kein Parlament, die Regierung ist zurückgetreten. Es hat keine Verfassung, Dutzende Reformgesetze warten darauf, verabschiedet zu werden. Der Status des Kosovo ist nicht geregelt, die zu 90 Prozent von Albanern bewohnte Provinz kämpft für die Unabhängigkeit. Die allein durch den Druck des Westens entstandene Staatengemeinschaft mit Montenegro ist nicht funktionsfähig, sie hat weder Flagge, Wappen noch Hymne, geschweige denn einen einheitlichen Markt oder dieselbe Währung.

Die von alten Kadern besetzten Apparate Justiz, Polizei und Armee sind nicht reformiert worden. Steinreiche Geschäftsleute und Kriegsprofiteure von Milošević’ Gnaden, die die Wirtschaft heute wie damals beherrschen, kämpfen hartnäckig und mit Schmiergeldern für das Erhalten ihrer Monopolposition, das Land wird von Korruptionsaffären erschüttert. Die Wirtschaft ist ruiniert, die Arbeitslosigkeit beträgt de facto 50 Prozent, ein Durchschnittseinkommen nur rund 200 Euro. Zudem steht Belgrad unter dem permanentem Druck des UNO-Tribunals für Kriegsverbrechen, alte und neue Angeklagte auszuliefern. Drei Jahre nach der Wende ist Serbien am Nullpunkt angelangt. Der Reformprozess in Serbien hat sich als noch tiefer und schmerzhafter erwiesen, als man es anfangs gedacht hatte. Es gilt nicht nur die ruinierte Wirtschaft und das verdrehte politische System zu reformieren, auch die Menschen müssen sich den neuen Spielregeln anpassen. Das gilt für die Wähler ebenso wie für die Gewählten. Der Glaube an den Rechtsstaat, die Überzeugung Teil der europäischen Staats- und Normenordnung zu sein, müsste die in internationaler Isolation tief verwurzelte Illusion eines nationalen Größenwahns, das Gefühl der allgemeinen Unsicherheit verdrängen.

Die zerstrittenen, selbstgefälligen, demokratischen, proeuropäischen Kräfte haben das bisher nicht geschafft. Das politische Leben war von Machtmethoden des vergangenen Regimes geprägt. Partei- und Geldinteressen überschatteten staatliche Interessen. Die verdunkelten Glasscheiben ihrer großen Mercedes- und BMW-Limousinen haben den neuen Machthabern den Blick auf die Lage der verarmten Bevölkerung getrübt, mit der sie einst Hand in Hand auf der Straße gegen das absolutistische Regime von Slobodan Milošević demonstriert hatten. Minister forderten Aufopferung von anderen, wollten jedoch selbst keine zeigen. Die Wähler präsentierten ihnen dafür vergangene Woche die Rechnung – und die ist Besorgnis erregend.

Zum dritten Mal in Folge scheiterten die Präsidentschaftswahlen an geringer Wahlbeteiligung. Der überzeugende Erfolg des rechtsradikalen, ultranationalistischen Kandidaten und die qualvolle Niederlage des linksliberalen Regierungskandidaten sind eine dringende Warnung für die demokratischen Kräfte. Die seit zwölf Jahren gepeinigte Bevölkerung ist anfällig für billigen national-sozialen Populismus geworden. Die Zukunft Serbiens werden nun die auf den 28. Dezember festgesetzten vorgezogenen Parlamentswahlen bestimmen: Vorwärts nach Europa oder zurück in die Isolation und internationale Verhöhnung.

Die allgemeine Armut und Arbeitlosigkeit sowie die Krise von Regierung und Verwaltung sind ein gefundenes Fressen für Demagogen und Populisten. Es wäre verführerisch einfach, politisch zu punkten, indem man ein anderes Volk oder den Westen oder eine andere Religionsgemeinschaft für die eigene Misere verantwortlich macht. Serbien hat unter Milošević diese Erfahrung gemacht, und nur all zu leicht könnte es wieder böses Blut geben.

Dabei hätte Serbien durchaus demokratisches Potenzial. Es liegt an den Trägern der Reformen, in den entscheidenden fünf Wochen bis zu den Parlamentswahlen die Reihen zu schließen und die enttäuschten, wahlmüden, apathischen Wähler wieder zu motivieren. Der nationalistische Korps, der auf Europa und europäische Wertvorstellungen pfeift, wird sicher unbeirrt und diszipliniert zu den Urnen marschieren.

Das erlösende Zauberwort, das wegen seiner Selbstverständlichkeit in den EU-Staaten die ursprüngliche Magie verloren hat und dessen Bedeutung in Serbien bis zum heutigen Tage nicht verwirklicht werden konnte, heißt schlicht und einfach: Demokratie. Praktisch angewendete Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Unter den gegebenen Umständen ist es in Serbien nicht so wichtig, ob rechts-konservative oder links-liberale Kräfte an die Macht kommen, vorausgesetzt, sie sind demokratisch orientiert und bereit, demokratische und rechtliche Institutionen aufzubauen. Serbien braucht keinen neuen Führer und Propheten, sondern vertrauenswürdige, pragmatische Persönlichkeiten, denen man zutraut, einen funktionsfähigen Staatsapparat aufzubauen. Ideologisches Wetteifern kann man sich für bessere Zeiten aufbewahren.

Ins neue Jahr jedenfalls wird Serbien parteipolitisch übersichtlich rutschen. Die bisher regierende Koalition Demokratische Opposition Serbiens (DOS) gibt es nicht mehr. Die DOS ist als eine Kraft „gegen“ das Regime entstanden. Jeder, der gegen Milošević kämpfen wollte, war willkommen, Parteiprogramme spielten keine Rolle. Jetzt werden sich die Parteien „für“ etwas einsetzen müssen, eine Aufgabe, die wesentlich mehr politisches Feingefühl erfordert. Aus dem bunten Mischmasch von 18 DOS-Parteien, die ruhmreich vor drei Jahren den Volksaufstand angeführt und den Diktator von seinem Sockel gestürzt hatten, werden sich nach den Parlamentswahlen vier bis fünf Parteien auf der politischen Szene Serbiens profilieren können. Der Rest wird bald in Vergessenheit geraten. Die Ordnung der politischen Landschaft von belang- und programmlosen Ein-Mann-Parteien, die pekuniären Interessengemeinschaften gleichen und nur dank dem historischen Erdrutsch in Serbien kurzfristig entstanden sind und an der Macht partizipieren durften, ist bitter notwendig. Zum Glück kann der Prozess nicht aufgehalten werden.

Im politischen Tohuwabohu lässt sich ein Hoffnungsschimmer für die Demokratie erkennen

In dieser ganzen serbischen politischen Misere, dem institutionellen Tohuwabohu, inmitten durcheinander gebrachter Weltanschauungen, kann man einen Hoffnungsschimmer der Demokratie erkennen: Eine unter Druck geratene Regierung hat die Parlamentsmehrheit verloren, ist zurückgetreten und hat vorgezogene Parlamentswahlen ausgeschrieben. So wie es sich gehört. Ganz und gar parlamentarisch.

Die Lektion war einfach: Wer nicht gut genug arbeitet, wird abgewählt. Macht ist vergänglich, das weiß man schon. Milošević wurde ja auch zur Abdankung gezwungen und später sogar dem Kriegsverbrechertribunal ausgeliefert. Aber dass eine Regierung in einem demokratischen, gewaltlosen Prozess abgelöst werden kann und dass sie das akzeptiert, das ist eine neue Erfahrung für Serbien. Und darauf kann man bauen – auf dem neuen Bewusstsein, dass Macht abwählbar ist. ANDREJ IVANJI