Die Mauer endet vor Gericht

15 Jahre nach dem Mauerfall ging der letzte Prozess gegen Ex-Grenzschützer der DDR in Berlin zu Ende. Die Richterin verhängte einen Schuldspruch, aber keine Strafen. Der Staatsanwalt bemängelte zu geringe Strafen für die verantwortlichen Politiker

237 „Republik-flüchtlinge“ wurden mit Schusswaffen, 33durch Minen getötet

aus BERLIN MAREKE ADEN

15 Jahre nach dem Mauerfall sprach gestern eine Richterin das letzte Mal über die Männer Recht, die die Mauer so unüberwindbar gemacht hatten.

Gerhard H., Dieter Sch., Rüdiger He. und Herbert St. hatten die Selbstschussanlage SM 70 entworfen oder instand gehalten. Vor dreißig Jahren entwickelten die DDR-Grenzer ein System, nach dem durch 80 kleine, kubische Metallsplitter getötet wurde, wer dem „antifaschistischen Schutzwall“ zu nahe kam. Viele Menschen hat das abgeschreckt, fünf junge Männer zwischen 17 und 29 Jahren nicht. Sie versuchten zu fliehen, vier von ihnen starben, einer gelangte schwer verletzt in den Westen.

Der letzte Prozess hatte noch einmal alle Zutaten, die die Mauerprozesse fast immer hatten: Es ging wieder um übergeordnete Wertvorstellungen, von denen jeder DDR-Bürger hätte wissen können. Noch einmal fiel das Wort „Naturrecht“, das die Tötung von unschuldigen Menschen verbiete, noch einmal ging es um das Völkerrecht, das alle Menschen in DDR nach ihrem eigenen Recht hätten achten sollen. Selbst die DDR habe einen „Soldaten mit Gewissen“ gewollt, so stehe es im Militärrecht des Staates. Einer der Angeklagten habe tatsächlich auf sein Gewissen gehört und sich fünf Jahre nach Entwicklung der Selbstschussanlage versetzen lassen, weil er nicht mehr Teil des Grenzregimes habe sein wollen.

Er zeige damit, dass man auch in der DDR einsehen konnte: Wer nichts weiter verbrochen habe, als sein Land verlassen zu wollen, dürfe nicht getötet werden, sagte die Vorsitzende Richterin Gabriele Strobel, „für mich ist das eine klare Überlegung“. Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz sieht das genauso, fand aber die Strafen nicht immer so schlüssig.

Als Chefankläger hat er die meisten Mauerschützenprozesse mitgemacht und findet im Rückblick, dass „die Strafen aus den Fugen geraten sind“. Im Vergleich zu den Mauerschützen seien die politisch Verantwortlichen nicht hart genug bestraft worden. Zum Abschluss hat Jahntz noch mal eine Tabelle aller Fälle mitgenommen. 270 Fälle wurden seit 1991 im Berliner Kriminalgericht aufgearbeitet, 237 „Republikflüchtlinge“ wurden mit Schusswaffen, 33 durch Minen getötet, 109 sind tatsächlich „Mauertote“, sie starben bei Fluchtversuchen um Westberlin herum. 128 Personen wurden verurteilt – zu langjährigen Haftstrafen der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler, der DDR-Grenztruppenchef Klaus-Dieter Baumgarten und der Honecker-Nachfolger Egon Krenz.

Das Verfahren gegen Erich Honecker selbst wurde 1992 eingestellt, weil der einstige Machthaber der DDR schwer krank war. Von 80 Mauerschützen bekamen 77 eine Bewährungsstrafe. Nach den ersten Prozessen hatte der Bundesgerichtshof die Urteile gegen die Soldaten als zu hart kassiert und so die meist milderen Jugendstrafen möglich gemacht.

Auch in diesem letzten Schuldspruch sind die Verurteilten nicht bestraft worden, weil sie acht Jahre mit der Anklage leben mussten, weil die Toten sie wirklich berührt hätten und weil das mildere DDR-Strafrecht dem Gericht diese Möglichkeit gab, begründete die Richterin. Zufrieden sei er damit, dass die Taten in den 15 Jahren nach dem Mauerfall überhaupt als Unrecht anerkannt wurden, sagte Jahntz am Ende einer Epoche. Mit dem Schuldspruch ging um 14 Uhr der letzte Mauerprozess am Tag des Mauerfalls zu Ende.