Der letzte Überlebende steht vor Gericht

Im indischen Bombay beginnt der Prozess gegen den einzig überlebenden Angreifer der Anschläge vom November 2008, die mehr als 170 Menschenleben gefordert haben. Indische Pflichtverteidigerin muss gleich zu Prozessbeginn ihr Amt niederlegen

AUS DELHI SASCHA ZASTIRAL

Über hundert Journalisten drängen sich vor dem Arthur-Road-Gefängnis in der indischen Millionenstadt Bombay. Mehr als 500 Polizisten sichern den weiß-grauen Funktionsbau. Es herrscht nervöse Anspannung: In dem Gebäude beginnt vor einem Sondergericht der Prozess gegen den einzigen überlebenden Attentäter der Terrorattacke von Bombay vom vergangenen November, die mehr als 170 Menschenleben gekostet hat: den Pakistaner Mohammad Ajmal Amir Iman alias „Qasab“.

Der gerade einmal 21 Jahre alte Attentäter wirkt gelöst, als er den Verhandlungsraum betritt, berichten Zuschauer. Er lächelt häufig, als er die Prozessbeobachter anschaut. Schließlich gilt der gesamte Aufwand nur ihm: Der Kleinkriminelle aus dem Dorf Faridkot in der pakistanischen Provinz Punjab ist heute weltbekannt.

Das Verfahren beginnt jedoch mit einem Eklat. Richter M. L. Tahilyani ist wütend. Er hat erfahren, dass Anjali Waghmare, die Pflichtverteidigerin des Angeklagten, auch einen Nebenkläger vertritt, der bei dem Terroranschlag schwer verletzt wurde. Das berge einen „Interessenkonflikt“ und sei ein nicht zu entschuldigendes „berufliches Fehlverhalten“, sagt der Richter. Waghmare versucht, sich zu rechtfertigen, doch ohne Erfolg. Richter Tahilyani entbindet sie von ihrem Posten. Amir sei Ausländer und habe in Indien keine Verwandten, erklärt der Richter. Daher sei das Gericht dazu verpflichtet, ihm ein faires Verfahren zu ermöglichen. Die Verteidigerin bricht in Tränen aus und verlässt den Gerichtssaal.

Lange haben sich in Bombay Anwälte aller Anwaltskammern geweigert, den Pakistani zu vertreten. Als Waghmare der Posten angeboten wurde, marschierten vor ihrem Haus Anhänger der Shiv Sena, einer fanatischen Hindu-Regionalpartei auf, warfen Steine und skandieren Sprechchöre gegen die Anwältin. Dennoch nahm sie die Verteidigung an. Sie erhielt permanenten Polizeischutz, wie er ansonsten nur hochrangigen Politikern gewährt wird.

Auch der Aufwand, mit dem für die Sicherheit des Angeklagten Amir gesorgt wird, ist enorm. Aus Angst, der einzige überlebende Attentäter könnte von Hindufanatikern ermordet oder von Komplizen aus dem Weg geräumt werden, wird das Verfahren in dem Gefängnis abgehalten, in dem Amir untergebracht ist. Eine indisch-tibetische Grenzschutzeinheit beschützt ihn rund um die Uhr. Der Verhandlungsraum und die Zelle des Angeklagten wurden mit Stahlbeton verstärkt, der einer schweren Explosion standhalten soll. Ein ebenfalls bombensicherer, vollklimatisierter Tunnel verbindet die Zelle mit dem Gerichtssaal.

Mehr als 800 Anwohner des angrenzenden Viertels haben Identitätskarten erhalten, ohne die niemand die Nebenstraße neben dem Gefängnis betreten darf. Die Verwaltung des Gefängnisses hat beantragt, dass der Luftraum über dem Gefängnis gesperrt wird.

Richter Tahilyani vertagt kurz nach der Absetzung von Qasabs Verteidigerin das Verfahren. Später berichten indische Medien, Amir habe um einen Anwalt aus seinem Heimatland Pakistan gebeten. Auf eine frühere Anfrage hätten die pakistanischen Behörden jedoch nicht reagiert, erklärt Staatsanwalt Ujjwal Nikam vor Journalisten. Der Wunsch werde dennoch umgehend über diplomatische Kanäle nach Islamabad weitergeleitet. Sollte Pakistan bis zum Donnerstag nicht antworten, werde das Gericht einen neuen Pflichtverteidiger benennen, sagte Nikam. Am Freitag soll das Verfahren fortgesetzt werden.