TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Immuner Sloterdijk

Ist es Häme oder Verzweiflung, mit der das Feuilleton die Abwesenheit der antikapitalistischen Linken kommentiert? Woher das plötzliche Interesse an den Kassandren? Und wo sind die nun? Überlassen die sich dem Glauben, der Kapitalismus würde sich selbst abschaffen? Oder will das gar keiner mehr?

Peter Sloterdijk hat in „Du musst dein Leben ändern“ (Suhrkamp, 2009) die Kernthese des Materialismus umgeschrieben. Sloterdijk zufolge ist alle Geschichte nicht mehr die von Klassen- sondern von Immunsystemkämpfen. Klingt nach Krankenversicherung: Der Mensch entwickelt körperliche und symbolische Immunsysteme, um sich gegen Bedrohungen aller Art zu schützen. Nebenbei, eine schöne Erklärung dafür, weshalb wir nie das Ende des Kapitalismus erleben werden.

Immun gegen die Welt. Bedeutet das nicht auch, immun gegen das Leben? Kann Leben im Imperativ stattfinden? „Du musst dein Leben ändern!“ Sloterdijk sagt, das befehle die Krise. Sein Mittel: die asketische Revolte. Vertikalspannung, Ausrichtung am Erhabenen: Der Mensch soll ständig üben, um mehr zu werden, als er bereits ist. Aber sind wir nicht schon gut genug?

Sloterdijk sagt, wir müssen raus aus der Frivolität der letzten Jahre, rein in die permanente Verbesserungsarbeit, um einen Ko-Immunismus zu erreichen. Das ist ein neues „globales Immundesign“, kommunistisch insofern, als es um universale Kooperation geht, um kooperative Askese. Ich weiß nicht. Das übende Leben, fit for no fun?

Meine Mutter kommentierte ihre Börsenverluste: „Ach, da geht’s ja den anderen nicht anders.“ Ist sie nun frivol? Oder immun? Oder bricht sich da die Orientierung auf ein neues Gemeinwohl Bahn? Erinnern wir uns. Marx zufolge haben die Arbeiter erst im Verlauf der Pariser Kommune ihre politische Form entdeckt. Es gibt also Hoffnung.

■ Die Autorin ist Kulturredakteurin der taz

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