Moses in Ostpolen

GESCHICHTSKINO „Unbeugsam – Defiance“, „John Rabe“ oder „Der Vorleser“, das Kino liebt historische Stoffe, besonders aus der Zeit des Nationalsozialismus. Woher resultiert das doch etwas sehr auffällige Interesse?

■ geb. 1964, ist freier Autor. Er schreibt unter anderem für die FAZ und die taz Filmkritiken und ist Fußballexperte (Hertha BSC)

VON BERT REBHANDL

Das „neue Jerusalem“, von dem in der jüdischen Prophetie die Rede ist, wird auf einem Berg liegen, weithin sichtbar, ein Zeichen des Triumphs nach den Wechselfällen der Geschichte. In den Zeiten der Not muss das neue Jerusalem sich aber auch manchmal verstecken. In dem nächste Woche anlaufenden Film „Unbeugsam – Defiance“ von Edward Zwick liegt es im tiefen Wald zwischen hohen Bäumen, unauffindbar für die Spürhunde der deutschen Besatzer, weit im Osten Polens.  In einer Zeit während des Zweiten Weltkriegs, in der die deutsche und die sowjetische Armee um dieses Territorium kämpften, flüchteten Juden in den Wald und errichteten unter notdürftigsten Bedingungen doch nichts weniger als eine kleine Siedlung. Man teilte das Essen, es gab Unterricht für die Kinder, Gottesdienste für alle Religiösen, man diskutierte, wie man sich gegenüber den sowjetischen Partisanen und den polnischen Kollaborateuren zu verhalten habe, und die Antwort auf jede dieser Fragen hatte eine praktische und eine prinzipielle Dimension.

Denn Gemeinschaften, die sich durch eine lange religiöse und nationale (Diaspora-)Geschichte definieren, handeln immer auf diese doppelte Rechnung. Alles, was sie tun, bezieht sich auch auf das „big picture“ einer Tradition, die nicht nur bei einem Versteck im Wald an die Stadtmauern von Jerusalem denken lässt, sondern die auch einen Anführer wie Tuvia Bielksi (im Film gespielt von Daniel Craig, bekannt als aktueller Darsteller von James Bond) als Moses-Figur erscheinen lässt, als Held eines neuen Exodus.

Das dichte Gewebe aus Assoziationen, das ein Film wie „Defiance“ mit sich bringt, ist dabei durchaus gewollt: Moses Bielski, Geheimagent seiner Majestät, des Gottes Abrahams und Jakobs.

Dass es sich bei Tuvia Bielski um eine in der polnischen nationalen Geschichtsschreibung sehr kontroverse Figur handelt, liegt auf der nächstspezifischeren Ebene und wird einen Hollywood-Film nicht mehr im Detail kümmern. Genau in diesem Spannungsverhältnis liegt aber ein wesentliches Charakteristikum so vieler neuerer Filme, die von historischen Sujets ausgehen und darin die „universale“ Geschichte suchen: „Der Vorleser“ von Stephen Daldry erzählt von der deutschen Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg in Form einer Allegorie auf nationale Adoleszenz und Reifung. „John Rabe“ von Florian Gallenberger von dem deutschen Geschäftsmann gleichen Namens, der 1937 im chinesischen Nanking einer Schutzzone für die einheimische Bevölkerung vor den Grausamkeiten der imperialen japanischen Armee vorsaß und dabei ein Muster von Zivilcourage abgab. „Defiance“ von den Brüdern Bielski, die aus einem jüdischen Getto ausbrachen und sich nicht „wie Schafe“ zur Schlachtbank führen ließen.

Beliebig wiederholbar und prinzipiell übertragbar – die Geschichte ist Kulisse

Alle diese Geschichten haben einen Zug ins allgemein Menschliche, der sich aber daran bricht, dass die allgemeine Menschlichkeit in der Regel immer noch national, ethnisch, religiös verfasst ist. So wurde „Defiance“ in Polen mit gemischten Gefühlen erwartet: Würde der Film das Selbstbild einer Nation, die ohnmächtig zwischen den Großmächten gefangen lag, aufbrechen und eine Nation von Antisemiten zeigen? Und so konnte die internationale Koproduktion von Bernhard Schlinks Bestseller „Der Vorleser“ als deutsche Erfolgsgeschichte auf mehreren Ebenen begriffen werden: Sechzig Jahre nach Krieg und Schoah hat sich die deutsche Klassik mit ihrem Ideal des Bildungsromans doch noch durchgesetzt. Schuld und Lektüre bilden ein Gleichgewicht, der pubertäre Eros wird auf eine Gerechtigkeit verschoben, die aus dem Kanon kommt. Und so stellt ein Film wie „John Rabe“ die Balance zu Hollywood wieder her, denn Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ hat nun ein deutsches Pendant. John Rabe ist für Siemens in Nanking, und er verteidigt den Standort auch dann noch, als die Nazis mit ihrer Autarkiepolitik schon längst wieder auf Protektionismus setzen.

In diesen drei genannten aktuellen und in vielen ähnlich verfassten Filmen ist Geschichte die unabgeltbare Ressource. Das faktische Töten und Sterben, die Leiden der Opfer und die Grausamkeiten der Täter verleihen den Filmen einen Bedeutungshorizont, den das Kino als Medium für sich nicht voraussetzen kann. Es flüchtet sich beinahe in den Bannkreis des Historischen. „John Rabe“ und „Defiance“ verfallen dabei in traditionelle Muster, sie heften an eine plakative Heldengeschichte das Gütesiegel der Faktizität und wollen über die Formelhaftigkeit ihrer Erzählung hinwegtäuschen.

Ungleich komplexer verhält es sich bei „Der Vorleser“, zu dem David Hares Drehbuch eine Ebene der Universalisierung hinzugefügt hat. Durch zwei auffällige Manöver geht der Film deutlich über das Buch hinaus. Das eine betrifft die Darstellung der Lager, das andere das Leitmotiv der Odyssee, das bei Bernhard Schlink nur am Rande vorkommt, im Film allerdings zu einer zentralen Setzung wird. Die Darstellung der Lager ist im Buch verstellt. Michael Berg, Erzähler der Geschichte, entdeckt, dass der Frau, die er in der Pubertät geliebt hat, in den 60er-Jahren der Prozess gemacht wird. Sie war Aufseherin in einem Konzentrationslager gewesen. „Es war nicht der erste KZ-Prozess und keiner der großen.“ Ein Fall aus der Masse der Mitläufer.

Durch diese Erfahrung wird Michael Berg erst zum Bürger der BRD. Er begreift deren prekäre Kontinuität mit einem Regime des Verbrechens. Nach einer Weile tut er das, was naheliegt: Er will sich ein Bild von den Konzentrationslagern machen. Dabei stellt er fest, dass man nicht einfach so nach Auschwitz fahren kann. Man braucht ein Visum (für das kommunistische Polen). „So bin ich zum Struthof ins Elsass gefahren. Es war das nächste Konzentrationslager. Ich hatte noch nie eines gesehen. Ich wollte die Klischees mit der Wirklichkeit austreiben.“

„Unbeugsam – Defiance“. Regie: Edward Zwick. Mit Daniel Craig, Liev Schreiber u. a. USA 2008, 137 Min. Filmstart: 23. April

„John Rabe“ und „Der Vorleser“ laufen zurzeit in den Kinos

Der Film verliert über diese Spezifika kein Wort. Stattdessen ist Michael Berg zu sehen, wie er ganz allein ein namenloses Konzentrationslager betritt, das nicht nur offensichtlich keinerlei Zugangsbeschränkungen unterliegt, sondern auf ihn zu warten scheint wie die Gralsburg auf Parzival. Und so durchschreitet der junge Mann im Film ein Lager, das als der paradoxe Fall eines exklusiven Klischees erscheinen muss. Unsere Gegenwart hat sich die Bilder aus den Lagern schon zu einer Motivserie geordnet: Eingang, Schlafsaal, Beutedepot, Gaskammer, Krematorium. Exklusiv ist dieses Klischee (das Stephen Daldry so vage wie möglich hält, es ist weder als Struthof noch als Auschwitz erkennbar) durch den Zeitpunkt, an dem Michael Berg sich damit konfrontiert: Der Film macht aus ihm figurativ den ersten Deutschen nach dem Krieg, der den verwunschenen Ort der Lager aufsucht.

Dass er dort gerade nicht „die Wirklichkeit“ findet, sondern das Klischee, das die Filmgeschichte seither daraus hat werden lassen, ist die List, die der Film dem Buch unterjubelt. Denn dort heißt es über ein Haus im KZ Struthof-Natzweiler, das als Gaskammer ausgewiesen ist: „Es war weiß gestrichen, hatte sandsteingefasste Türen und Fenster und hätte eine Scheune oder ein Schuppen sein können oder ein Wohngebäude für Dienstboten.“ Bernhard Schlink geht mit dieser Szene an den Ursprung zurück, an dem die Schoah noch dem Bilderverbot unterlag, während Daldry dieses Bilderverbot nun schon als Reminiszenz nehmen kann. Den Raum dazwischen nehmen alle die Filme und Fernsehbilder ein, die das Töten und Sterben in den KZs zu einem Klischee werden ließen.

Dass Michael Berg von David Hare dann auch noch zu einem neuen Odysseus gemacht wird, bekommt einen bemerkenswerten Hintersinn mit Blick auf die „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer. Dort ist der Held des antiken Epos eine Figur, die den Übergang vom Mythos zur Aufklärung vollzieht (mit allen dialektischen Rückfällen). An einer Stelle des philosophischen Texts heißt es, der „zu viel redende“ Odysseus (Udeis) „trägt bereits die Züge des Juden, der noch in der Todesangst auf die Überlegenheit pocht, die aus der Todesangst stammt“. Diese hoch spekulative Zuschreibung lässt sich noch einmal universalisieren.

Durch diese Erfahrung wird Michael Berg in „Der Vorleser“ erst zum Bürger der BRD

„Der Vorleser“ deutet an (macht dann allerdings selbst einen Mythos daraus), dass das Wort aus dem mythischen Gesetz der Wiederholung herausführen kann. Das läuft dem medienspezifischen Interesse des Kinos zuwider, das stark auf dieses Gesetz der Wiederholung angewiesen ist.

Die meisten der neueren Geschichtsfilme tendieren deswegen dazu, das Wort im Bild aufzulösen: „John Rabe“ und „Defiance“ (und „der Baader Meinhof Komplex“ etc.) zeigen Taten, die wie Parolen wirken. Sie sind beliebig wiederholbar und prinzipiell in jedes historische Setting übertragbar. Die Geschichte ist Kulisse, die Aktion ist universal.

Dem steht das prophetische Verständnis von Geschichte entgegen, das in konkreten Situationen ein Zeichen für eine große Erzählung sieht, die dahinter erst in Umrissen auszunehmen ist. In „Der Vorleser“ ist das neue Jerusalem eine Bibliothek, und nur wer lesen kann, erhält Zugang. Die Spannung zwischen dem „Juden“ Odysseus und dem „Deutschen“ Michael Berg ist der Riss, der ein Geschichtskino durchzieht, das an das Wort gefesselt ist und so tut, als verstünden Bilder sich von selbst.