semlers kleine wortkunde
: Kompromisse und Kompromisse

Angela Merkel schwadroniert über den „politischen Kompromiss“. Ihre Äußerungen zeigen: Sie hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht

Seit ihrer Rede zum Nationalfeiertag, wo sie sich erstmals des Themas „politischer Kompromiss“ annahm, verdichten sich Angela Merkels diesbezügliche Ideen zu formelhafter Klarheit. „Es gibt keine Pflicht zum Kompromiss, wenn der Kompromiss nicht so ist, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen“. So Merkel in der jetzigen Hauhaltsdebatte.

Bei der Deutung dieses Satzes tut man gut daran, dessen Wurzeln in der politischen Sozialisation der CDU-Vorsitzenden aufzudecken. War es doch kein Geringerer als Lenin, dessen Theorien zum politischen Kompromiss im „Linksradikalismus, Kinderkrankheit des Kommunismus“ zum ABC des poltischen Grundstudiums in der DDR gehörten, eines Studiums, dem sich Merkel pflichtgemäß unterzog. Schließlich war es Lenin, der die kompromissfeindliche Haltung der Linksradikalen geißelte und die Einsicht „Es gibt Kompromisse und Kompromisse“ formulierte. Obwohl Merkel, hierin Lenin folgend, strikt am Prinzip festhält, bei Lenin der sozialistischen Revolution, in Merkels Fall der Linie des brachialen Sozialabbaus, mangelt es ihr doch an den Feinheiten der Lenin’schen Argumentation, der Rücksicht auf objektive Daten und subjektive Kräfteverhältnisse.

Stattdessen bemüht sie ein Vorteile-Nachteile-Kalkül, das für die konkrete Analyse der konkreten Situation wenig bringt und meist nur im Nachhinein funktioniert. Wie weit ist sie entfernt von Lenins Einsicht, dass man eben manchmal Zickzack gehen, umkehren, die gewählte Richtung aufgeben muss, wenn die Realität dies gebietet. Und diese Realität würde sie darüber belehren, dass die Schröder’sche Agenda 2010 in ihrer scheinbaren Alternativlosigkeit, ihrer „Wir müssen alle Opfer bringen“-Rhetorik weit größere Zustimmungschancen in der Bevölkerung hat als der unmaskierte Angriff auf Arbeiterrechte, sprich Kündigungsschutz, Tarifautonomie und die Funktionsfähigkeit der Gewerkschaften. Gerade aber Fortschritte in letzterem Komplex macht Merkel zur Vorbedingung ihrer Zustimmung zu den Gesetzentwürfen der Koalition. Merkel ist bei Lenin zur Schule gegangen, aber sie war eine unaufmerksame Schülerin. Sie tritt als prinzipienfeste Realpolitikerin auf, entpuppt sich aber als Dogmatikerin des Kapitalismus sans phrase. Ein erneutes Studium der „Kinderkrankheiten“ ist angezeigt. CHRISTIAN SEMLER