Die Agenda 2006 heißt Europa

Ein Thema, das gut ankommt, ist heutzutage politischer Luxus. Doch die grüne Parteispitze leistet es sich. Sie denkt schon an die Wahlen in drei Jahren

Fischer ist nur virtuell da. Falls was schief geht, hat er nachweisbar nichts damit zu tun

AUS BERLIN JENS KÖNIG
UND LUKAS WALLRAFF

Die Grünen haben einen Traum. Ihr Parteitag, der heute in Dresden beginnt, soll ganz im Zeichen Europas stehen. Sollte sich dieser Traum erfüllen – die Konkurrenz würde vor Neid erblassen. Während sich SPD und CDU über die Sozialreformen streiten, leistet sich die kleine Regierungspartei den Luxus, ein Thema in den Mittelpunkt zu stellen, das gut ankommt. Europa ist schließlich wichtig. So wichtig, dass die Grünen mehr Promis als alle anderen Parteien für die Europawahl 2004 aufstellen. So wichtig, dass sie sich drei Tage lang am liebsten nur mit Europa beschäftigen wollen. Konfliktpotenzial: gleich null.

Welcher Grüne sollte nicht zustimmen, wenn Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke als Motto ausgibt, der europäischen Integration „eine grüne Richtung“ geben zu wollen. Damit in Dresden alles wie am Schnürchen läuft, hat sich die Führung monatelang vorbereitet und ein 46-seitiges Europawahlprogramm verfasst, in dem so gut wie alles vorkommt, was grüne Herzen höher schlagen lässt. „Wir wollen ein ökologisches Europa“, heißt es da. „Wir wollen ein gerechtes Europa. Wir wollen ein friedliches Europa der Menschenrechte.“ Und so weiter, bis zum krönenden Schlusskapitel: „Europa ist unsere Zukunft.“

Ein scheinbar banaler Satz. Aber er ist durchaus ernst gemeint. Europa soll tatsächlich Teil der grünen Zukunft sein, ein Teil der grünen Identität. Schon jetzt suchen die Parteistrategen wie Grünenchef Reinhard Bütikofer nach populären Themen, die garantieren sollen, dass das rot-grüne Projekt 2006 mit einem dritten Wahlsieg hintereinander endgültig Geschichte schreibt. „Es gibt eine rot-grüne Koalition nach der Agenda 2010“, umreißt einer der führenden Köpfe der Partei den Anspruch. Die Ausgangslage dafür sieht nicht so rosig aus. „Mit der einfachen Fortschreibung dessen, was wir in den vergangenen Jahren geleistet haben, werden wir die nächste Bundestagswahl nicht gewinnen“, sagt ein anderer Spitzengrüner. „Die Koalition muss völlig neue Spiele eröffnen.“

Im Mittelpunkt der grünen Überlegung steht dabei die Formulierung eines „neuen wirtschaftlichen Leitmodells“. Dessen bisher nur vage umrissener Kern: Welche ökonomische Dynamik kann Deutschland entfalten, ohne dass dabei das Prinzip der Nachhaltigkeit verletzt wird? In dieser allgemeinen Frage steckt das gesamte Konfliktpotenzial zwischen SPD und Grünen, abzulesen am Streit über die Windkraft oder an der Auseinandersetzung über die Steinkohlesubventionen. Die Suche nach einem solchen „neuen“ Wirtschaftmodell findet auch in Europa statt. Vielleicht ist ja deswegen „Europa“ bei der grünen Wählerklientel so positiv besetzt. Bei den jungen Grünenanhängern sei Europa sogar regelrecht ein Renner, hat Bütikofer festgestellt. Da kann man nicht früh genug anfangen, grüne Kompetenz zu demonstrieren.

Nun mag mancher einwenden, das Europaprogramm sei dafür viel zu luftig. Kein Problem – der Gegenwartsbezug der grünen Europapolitik wird am Samstag inszeniert.

Per Videoleinwand meldet sich Joschka Fischer aus Neapel vom EU-Außenministertreffen. Die Botschaft ist klar: Wie kein anderer rackert sich der grüne Übervater für Europa ab. So dicht ist sein EU-Kalender, dass er nicht nach Dresden kommen kann. Ein Ketzer, wer daraus folgert, der Parteitag sei vielleicht nicht gar nicht so wichtig. Und ein Bösewicht, wer Fischer unterstellt, dass er gern wegbleibt. Dem Außenminister kann es egal sein. Er hat nachweislich nichts damit zu tun, falls in Dresden doch noch etwas schief geht.

In der Debatte über die deutsche Innenpolitik drohen die Linken mit Änderungsanträgen. Noch schwieriger wird es beim Personal, Harmonie zu wahren. Die Zahl der Kandidaten für die Europaliste übersteigt die Zahl der zehn sicheren Plätze deutlich. Konfliktpotenzial: hoch.

Unumstritten sind nur Rebecca Harms als Nummer eins und Daniel Cohn-Bendit auf Platz zwei. Dahinter drängeln sich weitere Promis wie NRW-Landeschef Frithjof Schmidt, Comeback-Kid Cem Özdemir, die EU-Abgeordneten Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf und Heide Rühle – sowie der größte Problemfall: Angelika Beer.

Die Parteivorsitzende möchte Platz drei. Ob sie ihn bekommt, mag niemand prophezeien. Nach all der Kritik an ihrer Arbeit hat Beer nur noch eine kleine, letzte Chance: Sie muss eine brillante Bewerbungsrede halten.