Generation auf Posten

Mit den Dreißigjährigen – mäkeln ihre Kritiker und so sehen sie es selbst – geht es bergab. Die landläufige Diagnose: fortschreitende Entpolitisierung. Der „Generation Golf“ gebricht es an der revolutionären Selbstgewissheit der 68er, Gut-böse-Schemata sind ihr abhanden gekommen. Kennzeichen eines Verfalls oder doch eines intellektuellen Fortschritts?

von IJOMA MANGOLD

Die 68er, die Zaungäste und die „Generation Golf“: Unter welchem Namen auch immer, es ist diese Periodisierung, unter der die Bundesrepublik in den letzten Jahren den Teil ihrer Mentalitätsgeschichte narrativ zu fassen sucht, der auf die Kriegsheimkehrer- und die skeptische Generation folgte. Indem wir gesellschaftlich-politischen Wandel stets in Generationserfahrungen umzukodieren geneigt sind, erhält diese Periodisierung als narratives Muster eine eindeutige Stoßrichtung: Es ist eine Verfallsgeschichte, ein Prozess der Sinnentleerung und zunehmender Entpolitisierung. Wenn wir über die Dreißigjährigen und ihr Politikverständnis grübeln, besteht die größte Schwierigkeit darin, dass wir starr an einem statischen Politikbegriff festhalten und an ihm die Leistungen der sich ablösenden Generationen messen.

Beginnen wir mit drei Beispielen retrospektiver Selbstbefragung. Das erste Beispiel liefert Uwe Wesel, Jahrgang 1933, emeritierter Rechtshistoriker der FU Berlin, in seinem Buch „Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen“. Wesel erzählt darin vom späten Epilog des berüchtigten Mescalero-Briefs. Im Deutschen Herbst 1977 wurde nach der Ermordung des Generalbundesanwalts Buback in einer Studentenzeitschrift des Göttinger AStA ein anonymer Text publiziert, der in verquast-prätentiösem Stil eine Art moralische Selbstbesinnung inszenierte: „Meine unmittelbare Reaktion, meine Betroffenheit nach dem Abschuss von Buback ist schnell geschildert: Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen. Ich habe diesen Typ oft hetzen hören, ich weiß, dass er bei der Verfolgung, Kriminalisierung, Folterung von Linken eine herausragende Rolle spielte.“ Es geht dann in einigermaßen skrupulösen Grübeleien über das Pro und Contra des politischen Mords weiter, um zuletzt zu dem Ergebnis zu kommen, dass „der Weg zum Sozialismus … nicht mit Leichen gepflastert werden“ sollte. Unterschrieben ist der Text mit „Mescalero“, dem Namen eines Apachenstamms.

Im Januar 2001 sitzt Bundesumweltminister Jürgen Trittin im ICE auf dem Weg von Göttingen in die Hauptstadt. Er wird von Michael Buback, dem Sohn des Generalbundesanwalts, der auf dem Weg zu Sabine Christiansens Talkshow ist, erkannt und auf den Mescalero-Brief angesprochen. Trittin war seinerzeit Mitglied des Kommunistischen Bunds in Göttingen und insofern für Michael Buback Teil jenes Milieus, in dem der Brief mutmaßlich entstand. Trittin weist Buback darauf hin, dass der Text trotz seiner berüchtigten Formulierung den politischen Mord gerade nicht rechtfertigt habe („Haben Sie den ganzen Brief gelesen?“). Für Buback jedenfalls – man kann es verstehen – war Trittins Reaktion von allzu großer historisch-philologischer Abgeklärtheit, und so verschafft er sich am selben Abend bei Sabine Christiansen Luft mit Vorwürfen gegen Trittins fehlende Distanzierung. Plötzlich ist der Mescalero-Brief wieder Debattengegenstand der deutschen Publizistik, und wenig später kann die taz den Mescalero präsentieren: Klaus Hülbrock, mittlerweile 54 und Deutschlehrer für Ausländer in Wittenberg. Über den Tonfall seines Briefes ärgere er sich heute zwar selbst, aber ansonsten habe er – gewissermaßen vollinhaltlich – nichts zurückzunehmen: „Ich bleibe ein Indianer.“

Die zweite retrospektive Selbstkritik entnehmen wir dem kürzlich erschienenen Buch von Reinhard Mohr „Generation Z oder Von der Zumutung, älter zu werden“. Mohr ist Jahrgang 1955, Journalist beim Spiegel, und hat seine Generation, nämlich die, „die nach der Revolte kam“, also die 78er, als „Zaungäste“ porträtiert. In seiner wilden Jugend hat Reinhard Mohr sich im Frankfurter Straßenkampf aufgerieben, aber wenn er heute auf diese Zeit zurückschaut, so ist sie ihm selbst in irritierender Weise fremd geworden. Einmal fragt ihn eine junge Freundin, was es denn mit dem so genannten „FVV-Kampf“ auf sich gehabt habe. Der FVV-Kampf war ein heftiger, in seinen Mitteln wenig wählerischer Aufruhr gegen den Frankfurter Verkehrsverbund mit dem Ziel, dass der öffentliche Nahverkehr nichts kosten dürfe. „Fahrtzeit ist Arbeitszeit! Nulltarif für alle!“ lautete der Grundgedanke, also betonierte man Schienen zu, plünderte Fahrkartenautomaten, brachte Straßenbahnen zum Entgleisen und lieferte sich mit der Frankfurter Polizei Pflastersteingefechte. Von der jungen Freundin um historische Aufklärung gebeten, versucht Mohr noch einmal, die „Logik des Nulltarifs“ gedanklich zu rekonstruieren: „Die Kapitalisten und ihr Staat sollten für die Anfahrt zur Maloche blechen.“ Und während er die alten, längst vergangenen Worte reanimiert, teilt sich seine Erinnerung in zwei Teile: „Der eine war sentimental und wehmütig, der andere konnte selbst nicht mehr schlüssig erklären, wie es überhaupt so weit hatte kommen können.“ Mohr resümiert: „Viele Jahre lang hatte ich die Logik des Nulltarifs derart verinnerlicht, dass mir nur in Ausnahmefällen in den Sinn kam, wertvolle Münzen in den Automatenschlitz zu werfen, bevor ich mich in die U-Bahn setzte. Auch dann noch, als ich schon gut verdiente. Meine Moral stammte diesbezüglich immer noch aus dem Jahr 1974.“

Die dritte retrospektive Selbstkritik ist notwendiger-, aber auch charakteristischerweise von antizipierender und imaginierender Art: Wir entnehmen sie der „Generation Golf II“ von Florian Illies, Jahrgang 1971. Der Erzähler sitzt mit mehreren Freunden beisammen, ein befreundetes Paar hat seinen kleinen Sohn dabei. Während der kleine Constantin noch um den Tisch krabbelt, fragt sich Illies, ob es irgendeine Aussicht gebe, im Jahr 2020 dem inzwischen erwachsen gewordenen Constantin das Leben seiner Eltern nachvollziehbar zu machen: „Ob Constantin wohl seinen Eltern glauben wird, wenn sie ihm erzählen werden, dass es gegen Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschland – neben dieser da von 89 im Osten – eigentlich nur zweimal fast eine Revolution gegeben hätte: als die Postleitzahlen von vier auf fünf Stellen geändert wurden und als die Rechtschreibung reformiert und das scharfe S geächtet wurde. Vielleicht wird er uns fragen, warum wir uns stattdessen nicht um die Sanierung des Rentensystems gekümmert haben, um Nordkoreas Atompolitik oder um den Schutz der Erdatmosphäre.“

Aber die Erinnerungen der Eltern werden dann vollständig von Michael Jackson, Dieter Bohlen und Zlatko kolonisiert sein: „Wahrscheinlich wird uns Constantin dann anschreien, wie krank er es finde, dass wir uns an all diesen oberflächlichen Scheiß noch erinnern könnten.“

Vergleicht man diese drei Generationsrückblicke, wird deutlich, dass der Grad an unglücklichem Bewusstsein – man könnte auch sagen: an Selbstmitleid, ja Selbstzerfleischung, eindeutig und eklatant zunimmt. Noch ganz mit sich identisch ist auch nach 25 Jahren der Mescalero, der in Würde und Stolz auf die Taten seiner Jugend zurückblickt und nichts bereut. Selbst den Narzissmus der kleinen Differenzen zwischen Spontis und K-Gruppen hat der Zahn der Zeit nicht abzuschleifen vermocht. Die Wirklichkeit, in der Klaus Hülbrock einst agierte, muss – und darf – nicht neu interpretiert werden, und so hat auch sein Handeln von einst seinen festen alten Platz nicht eingebüßt. Es folgt der Zaungast der 78er-Generation, der ziemlich zerrissen sich irgendwo zwischen den Stühlen verortet: Er spürt noch den Impuls, doch die Wirklichkeit, die diesen Impuls hervorgebracht und naturalisiert hatte, ist untergegangen und so fremd und kurios wie eine Märchenwelt geworden. Der Zaungast will diesen Impuls auf keinen Fall aus Zeitgeist-Opportunismus verleugnen, aber er kann ihn doch nur unter nachsichtigem Erröten wieder in Erinnerung rufen. Ging es beim Mescalero noch um Leben und Tod, so bei den Zaungästen nurmehr um öffentliche Nahverkehrstarife und bei der Generation Golf schließlich um die Erweiterung der Postleitzahlen um eine Stelle.

Nehmen wir eine historisch etwas weitere Perspektive, dann war das 20. Jahrhundert hochgradig politisch. Dieses „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) hat in unterschiedlichen Formen des Totalitarismus die Politisierung des Privaten, die Inanspruchnahme des ganzen Menschen für die politische Sache auf die Spitze getrieben. Kein Dispens für niemanden vom politischen Kampf. Haltungen der Distanz und der Desinvolture galten als lau, dekadent und konterrevolutionär. Der Begriff des Weltbürgerkriegs, mit dem man das 20. Jahrhundert auch beschrieben hat, meint genau dies: Jeder hatte sich zu entscheiden, wo sein Platz war – nämlich entweder auf dieser oder auf der anderen Seite der Barrikade.

So gesehen sind die heute Dreißigjährigen die erste Generation, die sich in der Welt orientieren kann ohne den dezisionistischen Druck des Weltbürgerkriegs. Das ist ein großer Gewinn für die Nüchternheit und damit für die Humanität. Wir können viel konkreter bei den Dingen verweilen und von Fall zu Fall einen bestimmten Meinungsstandpunkt einnehmen, weil wir nicht mehr meinen, durch abstrakte Generalisierungen unseren prinzipienfesten Standpunkt unter Beweis stellen zu müssen. Trotzdem wird diese Zivilisierung noch immer vor allem als politische Indifferenz verächtlich gemacht.

Der Hauptvorwurf an die Parteien lautet auf Ununterscheidbarkeit. Und das stimmt, was die großen Abstraktionen der politischen Grundsatzprogramme betrifft. Aber auch dies ist ein Plus an Entspanntheit: Man könnte es die Säkularisation der Politik nennen, die sich nicht mehr als allein selig machendes Glaubensbekenntnis organisiert, sondern – eine Phrase zwar, aber gleichwohl zutreffend – als Wettbewerber um die besseren Lösungen – und, natürlich, den schieren Besitz der Macht. Hier rächt sich das Denken in Generationen: Wenn man die Dreißigjährigen als politisch lauwarm kritisiert, dann nimmt man sie als Generation in Haft für einen Tatbestand, der die politische Wirklichkeit insgesamt bestimmt.

Als Gerhard Schröder für seinen Wahlkampf von 1998 die „Neue Mitte“ ausrief, hatte er damit Erfolg, weil die Phrase ein Stück Wirklichkeit beschrieb. Nun darüber zu lamentieren, dass man zwischen weich gespülten Konservativen, traditionsvergessenen Sozialdemokraten und pragmatisch gewendeten Ökofundamentalisten nicht mehr unterscheiden kann, ist einigermaßen geschmäcklerisch. Wir Dreißigjährigen jedenfalls fühlen ganz richtig, dass auf diesen starren Rollenmustern eine Identität nur um den Preis der Persönlichkeitsverödung aufzubauen ist.

Gleichwohl bleibt ein Unbehagen – das will ich nicht leugnen (doch Unbehagen, haben wir gelernt, ist der Schatten jeder Kultur). Dieses Unbehagen aber haben nicht die Dreißigjährigen zu verantworten – sie sind nur qua Geburtsjahrgang die Generation, die Wege wird suchen müssen, damit umzugehen. Wenn die Rede von mangelndem Engagement und zunehmender Entpolitisierung (schon die Verbreitung dieser Klage macht sie zum performativen Selbstwiderspruch) einen wahren Kern hat, dann hängt er mit der Komplexität der modernen Gesellschaften zusammen, die sich in ihrer nicht zu durchschauenden Funktionsweise dem Zugriff allzu gut gemeinter Rezepturen immer entschiedener entziehen.

Wenn wir Dreißigjährigen nicht mit Spruchbändern durch die Hauptstadt ziehen, wenn wir keine Demokultur entwickeln und keine Märtyrer der guten Sache hervorgebracht haben, dann weil wir ahnen, dass wir mit solchen Eindeutigkeiten nur unter dem Problemniveau einer sehr komplexen Wirklichkeit herumalbern würden. Es ist ja nicht so, wie Florian Illies kalkuliert insinuiert, dass uns die Fragen der gesetzlichen Rentenkassen oder des nordkoreanischen Atomprogramms schlicht kalt ließen.

Wir wissen aber, dass wir die Probleme des Rentensystems nicht durch einen Hungerstreik oder vergleichbare Akte politischer Theatralität lösen werden. Und ich glaube, dass auch der kleine Constantin dies in zwanzig Jahren nicht anders einschätzen wird. Die Form des politisch eindeutigen Akts, die befreiende Tathandlung, die uns als politische Subjekte im emphatischen Sinne konstituieren würde, wäre nur um den Preis der Komplexitätsignoranz, das heißt der Dummheit, zu haben. Sich wie Klaus Hülbrock in die Rolle eines Indianers einzuigeln, mag psychoökonomisch stimulierend sein, bleibt aber ein Eskapismus, der mit politischem Bewusstsein nichts zu tun hat.

Man kann die Problematik auch verallgemeinern und zuspitzen: Die Semantik des Begriffs des Politischen sieht traditionell eine Rollenkomplementarität zwischen Gesellschaft und Individuum vor. Die Gesellschaft ist die Summe ihrer Individuen, die wiederum als selbstbestimmte, mündige Subjekte durch ihre Handlungen bestimmen, wie sich diese Gesellschaft als ganze konstituiert. Über Prozesse der Partizipation und Legitimation werden die Einzelwillen der Individuen so vermittelt und katalysiert, dass die Gesellschaft einen Gemeinsinn als politische Norm durchzusetzen vermag.

Wo dieser Idealprozess nicht funktioniert, sind dunkle, illegitime Mächte am Werk, die dieses Abbildverhältnis verzerren: privilegierte Schichten, noch nicht zur Mündigkeit befreite Individuen oder ein irgendwie systemischer Verblendungszusammenhang. Es ist diese Semantik, die heute an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stößt. Zum einen arbeitet sie unter der Prämisse der zentralen Steuerbarkeit aller gesellschaftlich relevanten Lebenssphären, während sich tatsächlich die gesellschaftlichen Subsysteme (das meint der zwiespältige Begriff der Ausdifferenzierung), je anspruchsvoller und effektiver sie werden, immer mehr verselbstständigen, ihrer Eigenlogik folgen und nicht mehr von einem externen controll tower dirigiert werden können.

Das gilt nicht nur für die Ökonomie und die naturwissenschaftliche Erkenntnis mit ihren massiven Folgen für die Modellierung dessen, was Leben ausmacht. Zum anderen ist auch die Gesellschaft keine homogene Einheit mehr, der ein eindeutiger Wille – die Summe der Interessen ihrer Mitglieder – unterstellt werden könnte. Zum Dritten hat der Begriff des Individuums in den vergangenen Jahrzehnten eine ganz neue, einigermaßen irritierende Bedeutung angenommen.

Wir müssen feststellen, dass Individualisierung keineswegs nur ein emanzipatorischer Prozess hin zu immer mehr Eigenverantwortung und Eigenmächtigkeit des Subjekts ist. Im Gegenteil: In vielerlei Hinsicht ist Individualisierung das Diktat einer gesamtgesellschaftlichen Transformation und nichts weniger als eine Zumutung. Sie bedeutet keineswegs ein Mehr an Autonomie. Sie realisiert sich in dem Paradox einer aufgezwungenen Freiheit, die Gestaltungsmöglichkeiten einschränkt. Das moderne Individuum ist frei und ohnmächtig zugleich. Es ist herausgelöst aus traditionellen Bindungen, aus festgefahrenen Rollenmustern und sozialen Konventionen, aber es muss sich auch alles, was sein Leben ausmacht, selbst zurechnen – sogar dort, wo es über die Bedingungen und Voraussetzungen dieses Lebens keineswegs verfügt.

„Lebensführung“, so hat dies der Soziologe Ulrich Beck scharf gesehen, „wird unter diesen Bedingungen zur biografischen Auflösung von Systemwidersprüchen“. Das hat erhebliche Folgen für die Vergesellschaftung: Individualisierung qua Exklusion aus vorgegebenen sozialen Rollen macht es fast unmöglich, individuelle Bedürfnisse, Wünsche und Probleme zu gesamtgesellschaftlichen Interessen umzuformulieren und zu bündeln. Klassen, Schichten oder auch nur Interessengruppen als Subjekte der Geschichte haben ausgedient.

Übrig geblieben sind Individuen, die zwar das Schicksal der Individualisierung mit allen anderen teilen, aber deren Folgeprobleme in einem komplexen Gesellschaftssystem nur individuell zu lösen versuchen können. Konnten die Intellektuellen der Studentenrevolte der Sechzigerjahre sich noch als Avantgarde der unterdrückten Massen begreifen („Revolution ist machbar, Herr Nachbar“), ist heute für uns Dreißigjährige selbst ein so hochgradig generelles Problem wie das des Rentensystems nicht mehr durch eine allgemeine Generationsmobilisierung praktikabel und gerecht zu lösen.

Ein dunkles Bedürfnis zu handeln ist vorhanden, es gibt aber nicht mehr den archimedischen Punkt, an dem man ansetzen könnte. Von zwei Seiten wird auf diesen Umstand reagiert. Zum einen werden im Bereich der politischen Semantik Worthülsen wie Zivilgesellschaft, Beteiligungsgesellschaft, Kommunitarismus oder die neuen sozialen Bewegungen emphatisiert. Hinter diesen Sehnsuchtsformeln drückt sich aber vor allem das Erschrecken darüber aus, dass die Herstellung von Repräsentation und die Formen der Partizipation trotz guten Willens immer schwieriger und verworrener werden.

Zum anderen kann man auf vielen Ebenen den Versuch beobachten, in gleichsam wilder Verzweiflung, in einem voluntaristischen Akt die weltverändernde, Welten schaffende, handlungsmächtige Tat zurückzugewinnen. Man könnte das die Attacisierung der politischen Lebenswelt nennen. Was Attac viel mehr als seine krude politische Programmatik charakterisiert, ist die Entschlossenheit, wieder eindeutiges Handeln in die Welt einzuführen. Attacisierung meint in diesem Sinne Politik mit Haut und Haar, mit Gut und Böse, mit rechts und links, mit oben und unten.

Es ist eine Rückkehr zum Grabenkampf, eine manichäische Neutopographisierung der politischen Landkarte. Die Sehnsucht nach einer Rückgewinnung der Kategorie der Tat bedienen aber zum Beispiel auch Antonio Negri und Michael Hardt mit ihrem Manifest „Empire“ und Slovoj Žižek mit seinem Buch „Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin“. Negri und Hardt – könnte man vereinfachend sagen – versuchen, wieder ein Subjekt der Geschichte zu revitalisieren. Und weil man mit allen Wassern Foucaults gewaschen ist, heißt dieses Subjekt, dieser neue Mensch im Jargon von „Empire“ dann eben „der neue Körper“ (der sich nämlich dem Zugriff durch die „Biomacht“ entzieht). Wie schweißtreibend das ist, kann man an dem maßlosen Einsatz ihres Theorieeklektizismus sehen, dessen einzelne Bestandteile nicht gerade taufrisch sind.

Das feinmaschige Netz unendlicher Interdependenzen und komplexer Abhängigkeiten, das sich wie mikroskopische Fesseln über den politischen Körper der Gesellschaft gelegt und diesen bewegungsunfähig gemacht zu haben scheint, dieses Netz mit einem Hieb wie den gordischen Knoten zu durchschlagen, ist auch der Impetus hinter Slavoj Žižeks „Die Revolution steht bevor“. Žižek würde unseren Hinweis auf die Komplexität der Wirklichkeit als ein Immunisierungs- und Täuschungsmanöver bezeichnen, als eine sophistische Begriffsblende, die im Cyberkapitalismus die Eindeutigkeit des Realen verdecken soll.

Um also im emphatischen Sinne wieder tatmächtig werden zu können, müssen wir gemäß Žižek wieder einen Begriff des Realen und seiner echten Gewalt gewinnen. Deshalb empfiehlt Žižek allen Ernstes Lenin als Bezugsgröße und Vorbild. Anerkennend schreibt er: „Die ‚irrationale‘ Grausamkeit [der stalinistischen Säuberungen; Anm. d. Verf.] diente als eine Art ontologischer Beweis und bezeugte die Tatsache, dass wir es mit dem Realen zu tun haben und nicht einfach nur mit leeren Plänen.“ Zum fruchtbaren Erbe Lenins gehört deshalb für Žižek, die „Furcht vor dem Abgrund der Tat/des Aktes“ zu überwinden.

Mit Žižeks rhetorischer Aufrüstung und seinen Gewaltfantasien sind wir am anderen Ende der Generation Golf angekommen. Seine Thesen politisch zu bewerten dürfte so schwierig sein, wie einen Pudding an die Wand zu nageln. Aber in dem Bereich, wo sich die Dreißigjährigen dem Vorwurf des Unpolitischen stellen müssen, geht es ohnehin mehr um eine ungefähre Befindlichkeit, um Haltungen und Lebenserwartungen, die vor allem mit einer lebensweltlichen Grundstimmung zu tun haben. So ist es kein Zufall, dass der Vorwurf gerne in der Weise formuliert wird, diese Generation hätte keine Utopien mehr.

Da mag man abwehren und entgegnen, dass das 20. Jahrhundert dem utopischen Affen genug Zucker gegeben habe, mit fürchterlichen Folgen – und das ist ja richtig. Dennoch lässt sich auch dieser Vorwurf noch mehr ins Lebensweltliche wenden, und dann verstärkt dies unseren oben angeführten Eindruck eines Unbehagens. In diesem Sinne wäre Utopie die Vorstellung eines ganz anderen Lebens. Es ist gewiss kein Verlust, wenn wir heute nicht mehr wie Klaus Hülbrock bis zur Pensionsgrenze als Indianer durch die Gegend hüpfen. Aber ein Moment des Bruchs und der Selbstentfremdung, wie ihn Reinhard Mohr für sich am Beispiel der „Logik des Nulltarifs“ beschrieben hat, sollte doch zum Reichtum einer Biografie dazugehören.

Das Erzählprinzip der verlorenen Illusionen, wie es so vielen großen Romanen zugrunde liegt, scheint die Lebensläufe unserer Generation gar nicht zu strukturieren. Es ist schlechterdings unvorstellbar, wofür wir uns dermaleinst als wilde Auswüchse ungestümer Jugend schämen könnten. Das ist irgendwie unheimlich. Wo sind unsere Torheiten? „Action gibt satisfaction“, sagten die 68er. Aber so leicht ist für einen intelligenten Menschen Befriedigung nicht zu haben. Gleichwohl liegt in dieser „action“ immer auch das geheimnisvolle Versprechen von erhöhter Lebensintensität. Auf sie zuletzt zielt aller politischer Enthusiasmus.

Rechnen wir es der skrupulösen Intelligenz der heute Dreißigjährigen zu, wenn wir es uns mit dem Bösesein nicht gar so einfach machen. Unsere Generation wird, so steht zu erwarten, Veränderungen so grundstürzender Art zu verarbeiten haben, dass sie sich zusätzliche kleine Gassenrevolutionen getrost schenken kann. Und diese Veränderungen – man denke nur an die anthropoplastische Neumodellierung des Menschen durch die Biowissenschaften – lassen es unbedingt angeraten sein, das vorgegebene Komplexitätsniveau nicht mutwillig zu ignorieren.

Kauzigkeit scheint eine fast ausgestorbene Charaktermutation zu sein. Das ist eine Tendenz, die man zu Recht als Minderung von Lebensintensität bezeichnen könnte. Es ist gut vorstellbar, dass wir gegen diese Vergraumausung der Welt wieder einen Hauch von Anarchie herbeisehnen werden. Entgegen den habituellen Absetzungsritualen unserer Generation gegen die 68er könnte ich mir sehr wohl vorstellen, dass wir jene Seite der Studentenbewegung neu entdecken, die nicht der Dogmatismus der K-Gruppen war, sondern ihren Elan speiste aus dem Erbe der situationistischen Internationale und der subversiven Aktion.

Als Dieter Kunzelmann zu Beginn eines Gerichtsprozesses aufgefordert wurde, dem Richter die Ehre zu erweisen und sich von seinem Stuhl zu erheben, äußerte er die unsterblichen Worte: „Na, wenn’s der Wahrheitsfindung dient!“ Dass ein solcher Satz die klappernden Fassaden hohler Autorität zum Einsturz zu bringen vermag, das dürfte uns Harald-Schmidt-Guckern unmittelbar nachvollziehbar sein.

Mehr als die Generation Golf sind wir die Generation 89 – und auch wenn es uns noch nicht gelungen ist, dieses Erbe fruchtbar zu machen, dürfte es doch das leuchtende Beispiel sein, an dem all unser politisches Denken und Handeln sein Maß nehmen sollte. Mit der friedlichen Revolution von 1989 haben nicht nur die Länder Osteuropas die Fesseln des Totalitarismus abgeworfen, sie haben auch unsere Generation von den Verdruckstheiten, den unfrohen Ritualen und neurotischen Scheingefechten, den Denkreflexen und klaustrophobischen Schaukämpfen der späten Bundesrepublik befreit. Wie wir den Völkerfrühling von 1989 für uns produktiv machen können, ist gewiss nicht einfach zu sagen. Vieles daran bleibt notwendigerweise Plattitüde. Aber vielleicht, vielleicht …

Ernst Jünger schrieb in „Abenteuerliches Herz“: „Wozu man da ist, das erfährt man vielleicht nie, alle so genannten Ziele können nur Vorwände der Bestimmung sein; aber dass man da ist, mit Blut, Muskel und Herz, mit Sinnen, Nerven und Gehirn, darauf kommt es an. Immer auf dem Posten sein, dem Ruf zu folgen, der an uns ergeht – und es ist gewiss, dass der Ruf nicht ausbleiben wird.“ Ich glaube nicht, dass wir eine Generation mit verstopften Ohren sind. Wir sind aber gewiss eine, die zumindest theoretisch genug Anschauungsmaterial hat, um dem Ruf sirenenhafter Rattenfänger zu widerstehen. Irgendwo dazwischen sollten wir unser abenteuerliches Herz entdecken.

IJOMA A. MANGOLD, geboren 1971, ist Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Sein Text – Originaltitel „Graue Mäuse und abenteuerliche Herzen“ – ist ein gekürzter Vorabdruck aus Kursbuch 154 „Die Dreißigjährigen“ (Rowohlt, 200 Seiten, 10 €)