: „Immer zu frech, um Angst zu haben“
Eleonore Hertzberger hat als 16-Jährige Berlin verlassen müssen. Denn ihr Vater war Jude. Trotzdem besucht sie seit rund zehn Jahren Schulen in der Stadt, um zu erzählen, „wie es ist, unter einer Diktatur zu leben“. Geschichte soll so greifbarer werden
Interview SUSANNE AMANN
taz: Frau Herzberger, Sie sind mit Ihren Eltern 1933 aus Berlin geflohen, weil Ihr Vater Jude war. Welche Erinnerungen haben Sie an Berlin?
Nur gute. Mein Lieblingsplatz war zum Beispiel die Eisbahn gegenüber unserem Haus. Das war im Sommer ein Tennisplatz, im Winter wurde es zum „Wintermärchen 2“, wo ich stundenlang meine Runden drehte. Dort hatte ich auch meinen ersten Flirt. Auch in der Schule habe ich mich nur amüsiert, habe viel abgeschrieben oder unter dem Tisch andere Dinge gemacht.
Aber als Sie 16 waren, haben Sie die Schule verlassen.
Ja, als meine Mitschülerinnen braune Uniformen trugen, der jüdische Direktor weggeführt wurde, wir mit „Heil Hitler!“ grüßen oder das Horst-Wessel-Lied singen mussten, da habe ich meine Eltern gebeten, nicht mehr in die Schule zu müssen. Denn nicht äußerlich hat sich die Schule verändert, auch unter uns Schülerinnen hatte sich der Ton geändert. Wir waren in zwei Lager geteilt und es war traurig mit anzusehen, wie schnell sich die Mehrheit der neuen Zeit angepasst hat.
Kurz darauf, im Oktober 1933, haben Sie zusammen mit Ihren Eltern Berlin verlassen.
Ja, mit zweihundert Mark und einem Picknickkorb haben wir die Stadt Richtung Amsterdam verlassen. Aber trotz der Sorgen meiner Eltern war ich guter Dinge. Als wir gepackt haben, habe ich gedacht: „Mal sehen, was mich jetzt erwartet.“ Ich bin in meinem ganzen Leben immer positiv gewesen.
Sie hatten keine Angst?
Nein, dafür war ich immer viel zu frech.
Wann sind Sie danach das erste Mal nach Deutschland und nach Berlin zurückgekehrt?
Als mein Vater starb, habe ich seinen Verlag, den er in Holland aufgebaut hat, acht Jahre lang weitergeführt. Dadurch bin ich in den 60er-Jahren geschäftlich immer wieder nach Berllin gekommen. Aber ich habe kaum noch jemanden getroffen, der lebte. Gleichzeitig war ich so beschäftigt, dass ich nicht viel von der Stadt mitbekommen habe.
In Ihrer Biografie beschreiben Sie sehr detailliert Ihre abenteuerliche Flucht durch ganz Europa.
Flucht ist nicht das richtige Wort. Schließlich haben wir nicht so lange gewartet, bis es so weit war. Wir sind viel eher freiwillig verschwunden, als dass man uns verfolgt hätte.
Ihr „Verschwinden“ hat Sie nach Holland, Frankreich, die Schweiz und schließlich nach Spanien gebracht.
Wir sind mit Hilfe einer militärischen Organisation, die von der niederländischen Exilregierung von London aus gesteuert wurde, von einer Fluchtadresse zur nächsten gekommen. Dabei hatten wir unheimliches Glück, denn ab Juli 1942 war es nicht mehr möglich, in die Schweiz zu kommen. Wir haben es im März 1942 gerade noch über die grüne Grenze dorthin geschafft.
Sie hatten sowieso sehr viel Glück während Ihrer Odysee durch Europa.
Oh ja. Mehr als fünfzig Prozent waren einfach nur Glück. Etwa, dass unser Hausboot in Amsterdam nicht mehr an seiner eigentlichen Stelle lag, als die deutschen Bomber kamen und genau dort trafen. Oder als ich ein anderes Mal nach Rotterdam wollte, um Pässe und Papiere zu besorgen. Ich kam nicht durch und habe deshalb umgedreht. Am gleichen Mittag ist Rotterdam bei deutschen Angriffen dem Erdboden gleichgemacht worden. Das ist alles Glück gewesen.
Seit rund zehn Jahren besuchen Sie Schulen in Deutschland, um Ihre Lebensgeschichte zu erzählen …
Nein, das ist falsch. Ich will da nicht meine Lebensgeschichte erzählen, die brauche ich nicht loszuwerden. Ich erzähle einfach nur, wie es ist, unter einer Diktatur zu leben.
Was war der Auslöser dafür?
Mein Verlag hat mich immer wieder in Buchhandlungen, ins Theater und dann, 1994, eben auch mal in eine Schule geschickt. Da habe ich gemerkt, wie aufmerksam und interessiert die Kinder waren. Gleichzeitig habe ich zu der Zeit wieder Neonazis im Fernsehen marschieren sehen. Da habe ich gedacht, jetzt muss ich erzählen, wie es ist, unter einer Diktatur zu leben. Ich denke, wer mich hört, fängt erst gar nicht an, sich auf solche Gruppen einzulassen.
Wie fangen Sie die Gespräche an?
Ich erzähle Ihnen, dass meine Eltern 1911 heiraten wollten. Und dass meine Großeltern, also die Eltern meiner Mutter, damals gesagt haben: „Nein, nein, kommt gar nicht in Frage, der ist ja ein Jude.“ Dann frage ich die Kinder, welche Religion sie haben oder welche Religion etwa Jesus hatte. Der war auch Jude. Damit will ich ihnen klar machen, wie eng die jüdische und die christliche Religion zusammenhängen. Das sollen sie begreifen. Außerdem erzähle ich Ihnen auch immer einen Witz, der herrlich ist. Wollen Sie ihn hören?
Auf jeden Fall.
Also: Ein altes Ehepaar liegt gemeinsam im Bett und kuschelt. Da sagt er: „Liebling, ich muss dir etwas gestehen. Ich habe dir die ganzen Jahre nie erzählt, dass ich farbenblind bin.“ „Aber das macht doch nichts“, sagt darauf seine Frau. „Denn auch ich muss dir etwas beichten: Ich komme gar nicht aus Genua, sondern aus Ghana.“ (lacht) Den Witz erzähle ich, weil ich möchte, dass die Kinder verstehen, dass weder die Hautfarbe noch die Religion im Umgang miteinander eine Rolle spielen.
Wird durch Ihre Besuche Geschichte dadurch greifbarer für die Schüler?
Absolut. Ich versuche, das so verständlich wie möglich zu machen, und erzähle einfach aus meinem Leben. Allerdings ohne nur schwarz und weiß zu malen. So wie ich von den Nazis erzähle, beschreibe ich genauso, dass mich auch Holländer reinlegen wollten. Es gibt nie nur „gut“ und „schlecht“. Ich will den Kindern aber auch Vertrauen in sich selbst mit auf den Weg geben. Ich sage ihnen immer, dass sie so viel wie möglich lernen sollen. Denn was man im Kopf hat, das kann einem niemand nehmen. Meine Eltern sind mit 200 Mark aus Deutschland weggegangen und haben wieder von vorne angefangen. Ich versuche, den Jugendlichen klar zu machen, dass immer etwas passieren kann, das ihnen alles nimmt. Das müssen nicht nur politische Ereignisse sein, das können auch Naturkatastrophen sein.
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