Ströbele! Jetzt könnte alles kippen

Parteitage sind dreitägige Survivalcamps für alle Beteiligten. Langeweile, schlechtes Essen, keinen blassen Schimmer von der Welt da draußen. Wie hält man das bloß aus? Ein Hilfeschrei vom Dresdener Parteitag der Grünen

VON JENS KÖNIG

1. Egal in welchem Jahr, egal in welcher Stadt, egal welcher Parteitag, egal welche Partei – den Schlüsselsatz sagen alle Journalisten, wenn sie die Halle betreten und den ersten Kollegen treffen: „Ich glaube, der Parteitag wird langweilig.“

2. Parteien haben ihre eigenen Gesetze. „Wir sind hier in Dresden, weil Dresden genau in der Mitte Europas liegt“, begrüßt Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke am Freitagabend die Delegierten des grünen Europa-Parteitags. Vor zwei Wochen auf dem SPD-Parteitag in Bochum war man schon mal genau in der Mitte Europas. Heute und morgen liegt die Mitte Europas in Leipzig, wo sich die CDU trifft.

Das geht schon in Ordnung. Schließlich weiß heute kein Mensch mehr, wo Europa anfängt und wo es aufhört. Schewardnadse ist auch schon ein großer Europäer.

3. Als Besucher eines Parteitages darf man sich prinzipiell nicht für das Unwichtige interessieren, für die Folklore. Das lenkt nur ab. Aber wovon? Und was ist das Unwichtige? Der traditionelle Hallenrundgang des Parteivorsitzenden zum Beispiel – sagt dieser vielleicht mehr über den Zustand der Partei aus als die Grundsatzrede vor den Delegierten? Reinhard Bütikofer steht etwas verloren in der Halle 4 des Dresdener Messegländes. Angelika Beer ist nicht da. Wie immer.

Wenn jetzt ein Journalist hier wäre, hätte er seine Nullachtfünfzehn-Parteitagsgeschichte schon beisammen. Bütikofer, der erste Solovorsitzende der Grünen. Aber Journalisten sind keine zu sehen. Wie auch. Es ist Sonnabendmorgen 8.30 Uhr. Also macht sich der grüne Parteivorsitzende allein auf zu seinem Rundgang. Die ganze grüne Welt in 30 Minuten: Erdgasfahrzeug, Solarwatt, ziviler Friedensdienst, Grüner Punkt. Am Aufsteller mit der LSD-Werbung geht Bütikofer achtlos vorbei.

4. Auf Parteitagen kann jeder Besucher mühelos Bildungslücken schließen, von denen er gar nicht wusste, dass er sie hat. Antje Hermenau, sächsische Spitzenkandidatin für die Landtagswahlen 2004, preist in ihrer Rede den Erfindergeist Sachsens. Sie erzählt, dass sich eine Hausfrau aus Dresden immer an dem Kaffeesatz in ihrer Tasse gestört hat. Also erfand sie die Filtertüte. Die Hausfrau hieß mit Vornamen Melitta. Wer weiß, wozu man das noch mal gebrauchen kann.

5. Als Christian Ströbele ans Mikrofon tritt, kommt Unruhe auf. Wenn Ströbele ans Mikro tritt, kommt immer Unruhe auf. Besonders unter den Journalisten. Sie strömen aus den Fluren, wo sie mit anderen Journalisten darüber reden, dass der Parteitag so langweilig ist, wie sie erwartet haben, in die Halle. Ströbele! Jetzt könnte alles kippen.

„Es stimmt nicht, dass ich den Parteitag täuschen will“, sagt Ströbele. Klingt viel versprechend. So gut wie ein Putsch. Ströbele redet über die Vermögensteuer. „Eigentlich ja nicht mein Fachgebiet“, sagt er. Das fällt den Journalisten jetzt auch wieder ein. Plötzlich ist die Spannung raus. Am Ende verliert Ströbele die Abstimmung über die Vermögensteuer. Die Pressereihen im Saal lichten sich wieder.

6. Journalisten sind Pawlow’sche Hunde. Sie brauchen die immergleichen Reize, die Ströbeles, Ottmar Schreiners und Sahra Wagenknechts. Wie sonst sollten sie die Parteitage überleben. Es ist ja so schon schwer genug. Reden, Reden, immerzu Reden, stundenlang, tagelang. Jeder dieser Reden wirft die deutsche Sprache hinter die Brüder Grimm zurück. „Für uns Grüne ist die Würde des Menschen unantastbar und nicht die Würde der Tresore“, sagt Claudia Roth. Schweigen, Stille – nach nichts ist die Sehnsucht in solchen Momenten größer.

7. Der zweite Schlüsselsatz eines jeden Parteitagsberichterstatters lautet: „Wie lange dauert’s eigentlich noch bis zur Abstimmung?“ Abstimmungen bedeuten die Rettung. Sie unterbrechen den monotonen Redefluss der Delegierten. Sie geben das Zeichen zum Wachwerden. Sie schaffen das, was Korrespondenten für ihre Personalgeschichten benötigen: Zahlen, Ergebnisse, Fakten. 55 Prozent für Angelika Beer im zweiten Abstimmungsgang zum fünften Listenplatz. Was für eine Story!

8. Abgestimmt wird auf Parteitagen immer. Über Personen, Wahlprogramme, Leitanträge, Perspektivanträge, Initiativanträge, Änderungsanträge. Jeder Antrag hat eine Nummer. Zusammengefasst sind alle Anträge in einem Antragsheft. Seit die SPD an der Regierung ist, braucht sie Antragsbücher.

Beim SPD-Parteitag in Bochum war das Antragsbuch dicker als Tolstois „Krieg und Frieden“. Die Grünen sind eine kleine Partei. Sie kommen mit ein paar Blättern aus. Aber das macht es nicht übersichtlicher. Steffi Lemke erklärt vor der Verabschiedung des Europawahlprogramms in einem zehnminütigen Stakkato, warum der Antrag E-01/0661-1 des Kreisverbandes Olpe mit Nichtbefassung gestraft wird, der Antrag E-01/0409-3 der Bundesarbeitsgemeinschaft Ökologie sich durch die Übernahme des Antrages E-01/0409-1 erledigt hat und der Antrag E-01/0472-1 des Kreisverbandes Pankow, der fordert, die Fahrradmitnahme im Fern-und Nahverkehr auf europäischer Ebene verbindlich festzuschreiben, modifiziert übernommen wird. Und es jetzt heißt, dass die Fahrradmitnahme im Fern- und Nahverkehr auf europäischer Ebene überall ermöglicht wird. In den Redaktionen sagen die Nachrichtenredakteure dann immer, man solle von einem Parteitag mehr über die Sachdebatten berichten.

9. Der Sonnabendvormittag verändert jeden Parteitag. Vorn auf der Bühne reden sich irgendwelche No-Names warm. Journalisten, Profipolitiker und Delegierte lesen in den Zeitungen, was am Freitag auf dem Parteitag alles passiert sein soll. Die Wirklichkeit entsteht völlig neu.

10. Jeder Parteitag braucht Gerüchte. Der Urheber des Gerüchtes ist dann für zwei Tage Mittelpunkt journalistischer Rudelbildungen. Daniel Cohn-Bendit weiß, wie so was geht. Er hat am Freitag in einem Zeitungsinterview erklärt, dass Joschka Fischer 2007 oder 2008 als europäischer Außenminister nach Brüssel wechseln wird. Jeder weiß, dass das Schrott ist, aber alle reden über die Geschichte. Leider fragt Cohn-Bendit keiner, wo genau die Mitte Europas ist.

11. Je länger der Parteitag in der Messehalle in Dresden dauert, desto mehr vergisst man, dass es da draußen eine Welt gibt, die von all dem hier nichts wissen will. Sonnabendabend um halb sechs werden Bundesligaergebnisse verkündet. Bayern München – 1. FC Köln 2:2. Die Halle jubelt. Es gibt Hoffnung. Vielleicht ist Rot-Grün ja doch noch nicht verloren.