Gute Fernsicht

Auf dem Parteitag war von Europa zwar viel die Rede, umso weniger von der Europäischen Union

Welche Bedeutung der Standort Brüssel für die Grünen haben wird – das blieb unbeantwortet

AUS DRESDEN SABINE HERRE

Die wichtigste europapolitische Nachricht kam an diesem Wochenende aus Neapel. Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben sich auf eine enge militärische Zusammenarbeit verständigt – doch wer geglaubt hatte, dies würde beim Europaparteitag der Bündnisgrünen für Aufregung sorgen, hatte sich in den Grünen getäuscht. Mehr noch: Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die neue Sicherheitsstrategie, die in nicht einmal zwei Wochen beim EU-Gipfel in Brüssel verabschiedet werden wird – all das spielte bei der Diskussion über das grüne Programm für die Europawahlen im Juni 2004 keine Rolle. Nicht die geringste.

Überhaupt war es eine seltsam EU-ferne Debatte, die sich da in Dresden am Samstag über vier Stunden hinzog. Sicher: Die Grünen sind die erste Partei in Europa, die plant, einen wirklich europäischen Europawahlkampf zu führen. 24 grüne Parteien aus 22 Ländern beteiligen sich daran, ein gemeinsames Wahlmanifest ist bereits verabschiedet, im Februar soll dann auch ein europäisches „Dream-Team“ – wie EP-Fraktionsvorsitzende Monica Frassoni in einem Grußwort sagte – präsentiert werden. Und auch bei der Zusammenstellung der deutschen EP-Kandidaten hatte sich der Bundesvorstand größte Mühe gegeben. Das Debakel der letzten Legislatur, als drei von sieben grünen Abgeordneten die Fraktion in Straßburg verließen, soll sich nicht wiederholen. So stellte man erfahrene Europaparlamentarier wie Daniel Cohn-Bendit und Heide Rühle geschickt neben die niedersächsische Antiatomaktivistin Rebecca Harms und den Mulitkulti-Mann Cem Özdemir.

Dennoch blieb in Dresden unbeantwortet, welche Bedeutung der Standort Brüssel künftig für die Grünen haben wird. Es war schon auffällig, dass an drei Tagen wohl tausendmal das Wort Europa fiel, aber kaum ein dutzend Mal von der Europäischen Union die Rede war. Zum einen ist Europa, woran dann auch der gerade aus Russland zurückgekehrte Exbundestagsabgeordnete Helmut Lippelt erinnerte, noch immer größer als die EU. Zum anderen aber schien es, als wolle man sich den Traum vom grünen Europa, in dem „alle Verbraucher umfassend geschützt“ und „alle bisher Diskriminierten nicht länger diskrimiert werden“, nicht kaputtmachen lassen von den Niederungen des Brüsseler Alltags. Ganz in diesem Sinn verlief auch die Europadebatte. Bundeslandwirtschaftsministerin Renate Künast widmete sich ihrem Kampf für die Legehennen, die anstehenden Verhandlungen über den EU-Haushalts waren ihr weniger wichtig. Parteichef Reinhard Bütikofer, sonst immer gut für einen Blick in die Zukunft, fiel zum Thema „Europa in zehn Jahren“ nicht viel mehr ein, als dass es dann wohl mehr grüne Umweltminister geben werde. Exparteichefin Claudia Roth schließlich gelang es, bei ihrer Einführung zum Demokratiekapitel des Wahlprogramms den umstrittenen Bürgerentscheid über die EU-Verfassung gar nicht erst anzusprechen. Den Bundesvorstand vor der wohl einzigen wirklichen Niederlage des Parteitags retten konnte sie so nicht. Der von weit über 50 Kreisverbänden unterstützte Antrag für ein deutsches Verfassungsreferendum wurde mit nur wenigen Gegenstimmen angenommen.

Wirklich europäisch wurde die Debatte nur an zwei Punkten: Bei der Frage des EU-Beitritts der Türkei und der Reform des Stabilitätspakts. Hier blieb es einmal mehr Daniel Cohn-Bendit überlassen, die Richtung vorzugeben. Die Türkei sei nur dann in die EU zu integrieren, wenn sie sich zuvor vom Kemalismus verabschiede. Erst mit diesem verschwände auch der große Einfluss des Militärs auf die Politik.

Und während Cohn-Bendit in den vergangenen Monaten stets zu einem nicht zu erschütternden Verfechter der deutsch-französischen Zusammenarbeit gehört hatte, bezeichnete er ihre Protagonisten nun als „Parvenüs“. Berlin hätte mit seinem „Wir sind wieder wer!“, Paris mit seinem „Wir waren immer wer!“ der EU ihre Vorstellung von Stabilitätspolitik aufgezwungen.

In der Kritik daran, dass EU-Regeln nicht einfach gebrochen werden können, waren sich die Delegierten weitgehend einig. Bei der Frage allerdings, was nun mit dem Stabilitätspakt geschehen solle, fand die Einigkeit schon wieder Grenzen. Ein Antrag zum Europawahlprogramm forderte die Aufweichung des Paktes. Der andere zielte auf das genaue Gegenteil, seine strikte Einhaltung. Auch wenn beide Anträge scheiterten und die Grünen nun für einen flexibel ausgelegten Stabilitätspakt werben, stimmt es nachdenklich, dass beide Seiten ihre Position mit einem der wichtigsten grünen Prinzip, dem der Nachhaltigkeit, begründeten. Scheinbar kann man auch das flexibel auslegen.