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Fröhliche Nudisten

Die neue Hamburger Kurzfilmrolle ist da. Sie weckt Sympathien für verzweifelte englische Unterschichtsfrauen und polnische Emigranten, die im Alter nackt an der Bushaltestelle sitzen

von Daniel Wiese

Als Kritiker hat man oft ein bisschen Angst vor Kurzfilmrollen. Oft stürmen tausend Eindrücke auf einen ein, die sich nur deswegen auf einer Filmrolle versammeln, weil ein Kurzfilm allein kaum Chancen hat, in Kinos gezeigt zu werden.

Manche Kurzfilmrollen machen es einem allerdings leicht. All‘In‘All, die neue Rolle vom Hamburger Kurzfilmfest, ist so ein Fall. Auch in All‘In‘All gibt es die typischen, nur wenige Minuten langen Experimentalfilme, bei denen etwa die Sprungbewegungen eines Kunstspringers, das Federn des Sprungbretts, das Kräuseln der unberührten Wasseroberfläche zu einer kleinen Symphonie zusammengeschnitten werden.

Doch das sind nur Fingerübungen im Vergleich zu den Filmen, die wirkliche Geschichten erzählen, mit einem Anfang und einem Ende. Manchmal werden sie nur angerissen wie in Abhaun, einer lapidaren Momentbeschreibung des deutschen Ostens, dargestellt an einer Bushaltestelle, an der die Busse vorbeifahren.

Manchmal aber entwickeln diese Filme einen eigenartigen Sog, und dann sind sie nicht mehr lapidar. Dann beginnen sie sich für die Figuren zu interessieren, von denen sie erzählen. In Wasp, einem englischen Film von Andrea Arnold, verfolgt die Kamera eine allein erziehende Mutter, wie sie mit ihren Töchtern ein Treppenhaus hinunterstürmt, im Arm ein Baby. Die Frau ist wütend, das sieht man, ihre Töchter sehen vernachlässigt aus. Die Frau läuft durch die Sozialbausiedlung, klingelt an einer Haustür. Sekunden später wälzt sie sich mit einer anderen Frau am Boden.

Seltamerweise wirkt die Wut, die der Film in diesen ersten Minuten entwickelt, nicht exhibitionistisch. Indem die Kamera schonungslos draufhält auf das kaputte Leben, entsteht Mitleid, und dann sieht man, wie mitten im kaputten Leben noch Hoffnung ist, Hoffnung in einer Welt, in der kleine Mädchen vor Kneipentüren frieren und sich hungrig auf Abfälle stürzen, die irgendwelche Passanten fallen lassen.

Als Film ist Wasp ein emotionaler Schock, völlig zu Recht hat er seine vielen Preise gewonnen. Ähnliches lässt sich von Harvie Krumpet sagen, obwohl dieser australische Animationsfilm auf einem völlig anderen Planeten spielt. Die gutmütige Stimme des Erzählers, die süßen Knetfiguren erinnern zunächst an freundliche Märchenfilme. Bis man irgendwann kapiert, dass diese Geschichte eines polnischen Sonderlings von eigener Schönheit ist.

Harvie Krumpet erzählt von einem Emigrantenschicksal, in dem sich wie unter einem Brennglas die großen Fragen des Lebens bündeln. Wenn der Held am Ende, im Altersheim angekommen, nackt an einer Bushaltestelle sitzt, an der nie ein Bus vorbeikommt, dann wirkt das vielleicht absurd. Aber man weiß, dass er glücklich ist. Und das ist mehr, als die meisten von sich sagen können.

Kurzfilmrolle „All‘In‘All“: Premiere Mo, 20 Uhr, Abaton, mit Gästen; 2.12., 20 Uhr, Lichtmeß; ab 3.12., Abaton

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