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Rituale ohne Sinn

Müll, Enge, Armut und Erstarrung: Alvis Hermanis’ gefeierte Rigaer Inszenierung von „Long Life“ ist zu Gast in Berlin

Mikrofone, Verstärker, Kabel – der Rentner war mal Musiker. Jetzt ist er ein Bastler, der versucht, einen Casio-Synthesizer an sein sozialistisches Dampfradio anzuschließen. Die Drähte kreuzen sich, die Rückkopplung pfeift – für den Greis eine lustige Melodie aus zwei Zeiten, die nicht zusammenpassen.

Für Alvis Hermanis gilt das nicht. Mittlerweile ist er auf vielen europäischen Festivals zu Gast. Und auch in Berlin kommt er an. Es hat sich herumgesprochen, dass Hermanis’ Theater in Riga die Grenzen zwischen Theater, Leben und Gesellschaftsordnungen auflöst. Und dafür steht vor allem der Abend „Long Life“, der zusammen mit „By Gorky“ erstmals in Berlin zu sehen ist.

Im dem Stück verwandeln sich fünf junge Schauspieler, drei Männer und zwei Frauen, in die Bewohner einer Alten-WG. Ein Tag ihres Lebens in neunzig Minuten nachgespielt: schlafen, aufstehen, anziehen. Dazwischen liegt so etwas wie Arbeit: Sie kramen Fotos, Kämme, Teebecher aus Vitrinen, zerren Klamotten aus Stapeln und sortieren alles zu neuem Chaos um. Das Material dient auch als Trittleiter, um den Stauraum auf Schränken zu erschließen oder ein Bild neu aufzuhängen. Da es draußen keine Beschäftigung mehr gibt, konzentrieren sie sich ganz auf das Herumkramen in ihren vollgestopften Wohnräumen wie in prall gefüllten Schuhkartons voller Erinnerungen.

Ihr Spiel kommt ohne Worte aus, nur mit den einstudierten Gesten, Gebärden und gebrechlichem Zittern. Aber es trügt nicht, was man da durch die transparenten Körper der jungen Schauspieler hindurch sieht: Das verlorene Bewusstsein für den Sinn ihrer Verrichtungen – und für die Mühen und Gefahren ihrer täglichen Rituale. In jedem Wäscheaufhängen oder Hantieren mit der Elektrik steckt auch ein Überlebenskampf, der das Ende bedeuten könnte. All das spielt sich in einem breiten Bühnenkasten ab, in dem die Zimmerwände der beiden Paare und des alleinstehenden Mannes herausgetrennt sind, und die Motive dicht liegen: Müll, Enge, Armut und emotionale Erstarrung. Das Bühnenbild scheint in esoterischer Bastelstunde entstanden, Hermanis arbeitet darin überraschend konzentriert.

Viele Mythen kursieren über ihn. Dass er nach der Übernahme des Jaunais Rigas Teatris zwei Jahre lang mit Frau und Kind in einem kleinen Büronebenraum lebte. Dass er einer sei, der viel herumschaut, alles aufsaugt, geprägt von urbaner Weitläufigkeit, dennoch autonom geblieben und durchaus mit politischem Hintergrund. Die Idee zu „Long Life“ sei Hermanis gekommen, erzählt HAU-Leiter Matthias Lilienthal, als der IWF der lettischen Regierung empfohlen hatte, zugunsten des Wirtschaftswachstums weniger Geld für Rentner auszugeben. Charakterstudien sind in „Long Life“ ebenso enthalten wie der geregelte Wahnsinn der postsozialistischen Übergangszeit.

Zusammen ergibt das eine kreative Opposition, in der ein Rest Tradition des Absurden mitspielt. Der Abend funktioniert für sich allein, aber es gibt auch Stimmen, die behaupten, dass man ihn nicht getrennt von „By Gorky“ sehen darf, das als zweites Gastspiel am Wochenende läuft. Nach Motiven von „Nachtasyl“ stellen sich die Schauspieler in einem Glaskasten zur Schau. Der Verweis auf Big Brother ist der gewollte Blick auf die Verwestlichung Lettlands und kontrastiert mit der Veröstlichung in „Long Life“. Dazwischen liegt die Kluft einer späten Modernisierung, von der man nicht weiß, ob sie mehr zerstört als erneuert. SIMONE KAEMPF

„Long Life“, noch heute im HAU 3, Tempelhofer Ufer 10; „By Gorki“ am 19. und 20. 11. im HAU 1

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