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Mein Schild, die Kamera

Prunksters (8) – die wöchentliche Kolumne aus den USA von Henning Kober. Heute: Jonathan und sein Film

Jonathans Geschichte beginnt im Kino. Da ist er sechs und sein Großvater nimmt ihn in einem Vorort von Houston, Texas mit ins Lichtspielhaus. Sie sehen „Charlie und die Schokoladenfabrik“ und er trägt auf seinem Kassettenrecorder die Soundspur mit nach Hause. Dort malt er, den Ton im Ohr, Szenenbilder auf Papier. So läuft der Film im Kopf weiter und lenkt ab von dem schaurigen Streifen, der um ihn flimmert. Mit elf hat er seine eigene Kamera, sie wurde ihm „dritter Arm, Waffe und Schild“ zugleich, sagt er.

Wir sitzen im Hochhaus-Büro von Wellspring-Productions, draußen flitzt ein wilder Premieren-Lichtblitz über das Empire State Building und Jonathan Caouette gibt gerade sein 431stes Interview. Er war in der ganzen Welt auf Festivals. Im Kino läuft sein erster Film, „Tarnation“ (auf Deutsch: Verdammt). Es ist die Geschichte seines Lebens und die seiner Mutter.

Renee LeBlanc war ein normales Mädchen. Bis sie vom Dach fällt. Sie ist etwas verwirrt, gedämpft, ihre Eltern stimmen unbedarft einem fatalen Fehler zu. Die Elektroschock-Therapie drückt Renees Stimmung radikal, bis heute. Sie kann sich nicht um ihr Kind kümmern. Jonathan wächst bei Pflegeeltern auf, „sehr viel Vernachlässigung und Missbrauch“, sagt er.

Später bei seinen Großeltern ist es besser, doch anders abseitig. Er kleidet sich als Gothic-Girl und geht aus in New-Wave-Clubs, da ist er 13. Zehn Jahre danach zieht er nach New York, arbeitet als Schauspieler, Kellner und Portier eines Juweliers, liebt seinen Freund. Neustart ist eine leichte Blume. Familie eine schwere Wurzel.

Als eine Krankenschwester anruft und von der Lithium-Überdosis seiner Mutter berichtet, bricht er zusammen, die Tränen schwimmen. So fängt „Tarnation“ an. Szenen aus dem Videotagebuch, Interviews mit Familienmitgliedern, Fetzen aus einflussreichen Filmen und Popsongs, schnell geschnitten, erzählen den Trudel der 31 Jahre zuvor. Jonathan hat ihn nicht betäubt, sondern erforscht. Filmkritiker sagen, er habe den Dokumentarfilm neu erfunden. Auch weil der Film 218 Dollar gekostet hat und auf iMovie geschnitten wurde. „Tarnation“ ist das Ergreifendste, was ich seit Harmony Korines „Gummo“ gesehen habe.

Es fällt Jonathan noch immer schwer, darüber zu sprechen. Bald zieht er für ein halbes Jahr zu seiner Mutter nach Texas, er arbeitet an seinem nächsten Film. Danach möchte er mit seinem neunjährigen Sohn, dessen Mutter und seinem Freund in einem großen Haus wohnen.

prunksters@taz.de

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