Die Menschenwürde ist zu teuer

Zwar sinken die Kriminalitätszahlen, aber dafür gibt es immer mehr Verurteilungen zu Haftstrafen – in Deutschland sind die Gefängnisse notorisch überbelegt. Die Gefangenen werden weiter darunter leiden – denn selbst mit noch mehr und noch teureren Gefängnissen wird es eng bleiben

VON MAREKE ADEN

Es sah nach Selbstmord aus. Erst zwei Wochen nach dem Tod kam heraus, dass er umgebracht wurde, hingerichtet nach einer gestellten Gerichtsverhandlung von drei Mithäftlingen. Die „Anklage“ lautete auf Diebstahl. Die Exekution erfolgte per Erhängen, als Strick diente der eigene Pullover. Er saß in der Anstalt, weil er schizophren war und daher aus der Untersuchungshaft überwiesen worden war, in die er wegen Zechprellerei gekommen war. Den Behörden ist kein Vorwurf zu machen, dass sie zunächst an einen Selbstmord dachten. Selbstmorde sind in Gefängnissen keine Seltenheit, das Erhängen mit Laken oder Gürtel die Regel. Die Berliner Justiz macht den Tod von Gefangenen regelmäßig öffentlich und teilt mit, in welchen Gefängnissen das Personal jemanden „leblos“ auffand. „Er hatte sich mit einem Gürtel am Fenstergitter erhängt. Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden. Der Mitgefangene befand sich beim Hofgang, als der Tote aufgefunden wurde. Strafende wäre im Mai 2007 gewesen“, heißt es dann zum Beispiel in den Mitteilungen. Zwölf Männer haben sich seit 2001 in Berliner Gefängnissen umgebracht.

Die Mär vom Musterknast

Es mag viele Gründe dafür geben, warum jemand nicht nur seine Freiheit einbüßt, sondern aus eigenem Entschluss auch sein Leben: Reue, Scham oder ein Haftende im Jahr 2014. An den Haftbedingungen kann es nicht liegen, die sind paradiesisch, so geht die Mär in Deutschland, dann ist von Schwimmbädern die Rede und Fernsehern in jeder Zelle und dem Luxus, den Studenten in Deutschland sich wünschen.

Aber kein Student wohnt mit drei anderen auf einem Zimmer. In den älteren Gefängnissen in Deutschland ist das aber durchaus möglich. Andreas Hinderberger musste seine Zelle mit vier anderen teilen. Anders als in Studentenwohnheimen üblich, mussten sich die vier auch ein Klo teilen. Nur durch einen Vorhang war es von dem Bereich abgetrennt, in dem die vier wachten, schliefen, lebten. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat jetzt zwar entschieden, dass es menschenunwürdig ist, wenn man Menschen zwingt, anderen beim Klogang zuzuhören und den verpesteten Raum nicht verlassen zu können. Aber nicht alle Verletzungen des wichtigsten Verfassungsgrundsatzes, der Menschenwürde, müssen mit Entschädigung ausgeglichen werden, urteilten die Richter. Im geschilderten Fall hatte der Mann nur zwei Tage so leben müssen. Auch für die Menschenwürde gibt es eine Bagatellgrenze.

Angst vor Entschädigung

Alles andere wäre zu teuer geworden. Nachdem ein Landgericht in Karlsruhe einem Insassen für ähnliche Zustände über drei Wochen hinweg 650 Euro zugestanden hatte, waren schon unbestimmte „Millionenbeträge“ durch Gefängnisse, Anwaltskanzleien und Landesministerien gegeistert, die als Entschädigung in vielen Ländern hätten bezahlt werden müssen, wenn der BGH anders entschieden hätte. Denn: Überbelegt sind die Gefängnisse überall, und das oft nicht nur über wenige Tage oder Wochen hinweg.

Das Justizministerium von Baden-Württemberg gibt an, 7.104 Plätze im geschlossenen Vollzug stünden im Land zur Verfügung. Davon belegt sind: 7.563 – über 400 mehr. Das hessische Justizministerium wirbt für ein neues Gefängnis mit: „Bis zu 1.200 Plätze fehlten zeitweise im geschlossenen Vollzug.“ Bei der Neueröffnung einer Justizvollzugsanstalt in Mecklenburg-Vorpommern sprach der Justizminister Erwin Sellering freimütig von einer 60-prozentigen Überbelegung und von bis zu acht Leuten in einer Zelle. Es wird immer enger und niemand verheimlicht das. Und überall dort, wo die Gefängnisse alt sind, dürfen die Häftlinge auch zusammen untergebracht werden. Nur in neuen Gefängnissen müssen sie vorher zustimmen.

Selbstbewusst verkünden Politiker deswegen als Allheilmittel den Bau neuer Gefängnisse. Für Milliarden wird im überschuldeten Deutschland gebaut. Bayern hat 2.900 neue Gefängnisplätze für sagenhafte 620 Millionen Euro seit 1992 geschaffen, wenn man fünf fest geplante Anstalten schon dazurechnet. Hessen lässt in Hünfeld 404 neue Zellen für planmäßige 75 Millionen Euro bauen. 160 Millionen gab das Land in den letzten sechs Jahren allerdings auch schon für zwei weitere Standorte aus. In Hamburg 800 Plätze 92 Millionen, in Schleswig-Holstein 184 Plätze 70 Millionen Euro, in Niedersachsen werden 846 Plätze fast 165 Millionen Euro kosten, das Land erwägt inzwischen auch, einen Knast für Senioren zu errichten. Selbst Brandenburg, das Land der Wirtschaftspleiten, hat ein 342-Millionen-Programm für Um- oder Neubau seiner Anstalten aufgelegt.

Die Enge soll legal werden

Aber auch das scheint nicht zu reichen. Die CDU hatte noch eine zusätzliche Idee: Mehrfachbelegungen der Zellen auch in neuen Gefängnissen, „wenn die räumlichen Verhältnisse der Anstalt es erfordern“. Auch in Neubauten könnten dann viele eine Zelle teilen, auch wenn sie es nicht wünschen. Drei unionsgeführte Länder brachten im Februar eine entsprechende Gesetzesinitiative ein. Die würde legalisieren, was längst Praxis ist: In Berlin war einem Mann statt offenem der geschlossene Vollzug angedroht worden, nachdem er in der Anstalt Hakenfelde um eine Einzelzelle gebeten hatte.

Diese Reaktion der Gefängnisleitung ist einleuchtend, aber nur wenn man bedenkt, „dass noch im Mai 2001 eine Haftanstalt in Betrieb genommen wurde, die ausschließlich eine Mehrfachbelegung vorsieht“, wie die Berliner Richter, die dem Häftling sein Recht auf Einzelzelle zurückgaben, in ihrem Urteil missbilligend bemerkten. Sie entschieden auch, dass die Unterbringung dreier Männer in einem Raum mit nur einer Toilette – nur durch einen Vorhang abgetrennt – eine „unmenschliche und erniedrigende Behandlung“ sei. Die Justizsenatorin Karin Schubert hat hochgerechnet, dass in dem Fall die Menschenwürde von 500 Berliner Insassen verletzt ist.

Warum sind die Gefängnisse voller als noch vor zehn Jahren? Fragt man in den Behörden nach den Gründen für die Enge in den Justizvollzugsanstalten, ist die lapidare Antwort: Es gibt mehr Verurteilungen. Die aber hätten allein die Richter zu verantworten. Unabhängige Richter. Mit dieser Auswirkung der Unabhängigkeit hat besonders im Osten niemand gerechnet, wo zur Angleichung an das neue System der Bundesrepublik erst seit Mitte der 90er-Jahre neue Anstalten eingeweiht wurden. Der Maßregelvollzug im sachsen-anhaltinischen Uchtspringe ist seit zwei Jahren mit steigender Tendenz überbelegt, obwohl die Anstalt erst 1996 und 2001 in zwei Bauabschnitten eröffnet wurde. „Dass die Zahlen so ansteigen würden, konnten wir nicht vorhersehen“, sagt die Pressesprecherin der Betreibergesellschaft, Franka Petzke. Sie seien von der Statistik Mitte der 90er-Jahre ausgegangen.

Immer mehr Haftstrafen

Aber warum sperren die Richter immer mehr ein? Weil die Menschen in Deutschland krimineller geworden sind? Die Statistik des Bundeskriminalamtes aus dem Jahr 2002 sagt: Nein. Die gefängnisträchtigen Tötungs- und Raubdelikte, Brandstiftung und schwerer Diebstahl sind eher im Abwärtstrend. Dagegen nahm die Zahl einiger Delikte mit niedrigeren Strafen oder Geldstrafen rasant zu: Unterschlagung oder Sachbeschädigung beispielsweise. Es ist wohl eher so wie in den USA. Dort hat sich die Zahl der Inhaftierten in den letzten 20 Jahren vervierfacht, obwohl die Zahl der Gewaltdelikte konstant blieb oder sank. Aus ähnlichen Gründen, die der thüringische Justizminister Harald Schliemann angab, bevor er ankündigte, 136 neue Haftplätze zu schaffen: Die Richter würden immer weniger Strafen zur Bewährung aussetzen, in Thüringen allein zwischen 2001 und 2002 um zehn Prozent weniger.

Das wiederum liegt wohl an neuen oder schärferen Gesetzen. Das Sexualstrafrecht wurde in den letzten Jahren immer umfangreicher. Und die Filmwirtschaft freut sich zwar darüber, dass das Urhebergesetz Raubkopierer neuerdings härter bestraft, nicht aber deren Zellengenossen. Außerdem werden die Haftzeiten länger. Laut statistischem Bundesamt ist die Haftdauer von fünf bis fünfzehn Jahren 1994 noch 4.524-mal verhängt worden, 2003 waren es 6.002-mal. Ein Grund für späte Haftentlassungen ist womöglich auch, dass ärztliche Gutachter seit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe im letzten Jahr durch eine Fehldiagnose selbst zu „fahrlässigen Nebentätern“ eines entlassenen psychisch kranken Mörders werden können. Schließlich müssten die Psychiater auch die Öffentlichkeit schützen.

Wie klein ist „zu klein“?

Das ist das nächste Stichwort: Immer mehr Richter und Rechtspolitiker sehen im „Schutz der Allgemeinheit“ ihre primäre Aufgabe. Der hessische Justizminister Christean Wagner sagt offen, dass die Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft nur sein „zweites wichtiges Ziel“ ist. Mit dieser Logik sind dann entweder viel mehr Gefängnisse notwendig oder immer mehr Betten pro Gefängnis. Da das Land Berlin nur wenig Geld hat, neu zu bauen, müssen wahrscheinlich, wie bereits geschehen, Tischtennis- und Fernsehräume in Zellen umfunktioniert werden. Im Gespräch sind außerdem Umbaumaßnahmen in den Gefängnissen. In Thüringen nennt man das Konzept vornehm: „Neuordnung der Haftmodule“. Aber auch das wird schwierig: In alten Gefängnissen steht der Denkmalschutz dagegen, in neuen gibt es baurechtliche Normvorgaben. Allerdings gibt es danach keine „zu kleinen“ Zellen, sagt die Sprecherin der Berliner Justiz, Andrea Boehnke: „Was eine menschenwürdige Unterbringung ist, kann man ja nicht wie in einer Hühnerhaltungsverordnung für Gefangene regeln.“ Es wird eng bleiben.