Stressblockaden lösen

Mit Gehirngymnastik und Muskeltest physischen Beschwerden zu Leibe rücken: Die Kinesiologie, die Lehre von der Bewegung, fragt den Körper, was er braucht

Am Anfang wird geklopft. Sieben Frauen zwischen 35 und 65 Jahren haben ihre Straßenschuhe aus- und bequeme Kleidung angezogen und ihre Stühle im Halbkreis gruppiert. Nun klopfen sie leicht auf ihr Brustbein, einige summen dabei, massieren ihre Ohren und malen mit dem ausgestreckten Arm Achten in die Luft – nur die Augen schauen dieser Bewegung hinterher.

Das Klopfen aufs Brustbein, das die dahinter liegende Thymusdrüse aktivieren und damit positive Gefühle verstärken und negative umwandeln soll, die Massage der Ohren, um besser hinhören und aufmerksamer sein zu können, die Augenachten, geeeignet beispielsweise zur Entspannung bei der Arbeit am PC, sind Übungen der „Kinesiologischen Bewegungsabende“ im Frauenkulturhaus Harburg. Beschwerden wie Verspannung, Schwerhörigkeit oder auch eingeschränktes Konzentrationsvermögen wollen die Teilnehmerinnen damit lindern.

„Die Übungen, die wir hier machen, gehören zum Bereich Brain-Gym und helfen dabei, besser lernen und aufmerksamer sein zu können“, erklärt Gisela Stutz, die den Kurs leitet. Als Lehrerin, „keinesfalls Heilerin“, wie sie betont. „Bei organischen und stark psychischen Problemen kann die Kinesiologie nicht helfen.“

Doch sie kann helfen, Stressblockaden zu lösen. In der Kinesiologie, der Lehre (gr. logos) von der Bewegung (gr. kinesis), wird davon ausgegangen, dass der Körper selbst am besten weiß, was ihm gut tut. Um ihn direkt befragen zu können, zum Beispiel ob er eine bestimmte Zahnfüllung oder Nahrung nicht verträgt, entwickelte der US-amerikanische Chiropraktiker George Goodheart 1964 den Muskeltest.

Dabei dient in der Regel der ausgestreckte Arm des Leidenden als Indikator. Während der Kinesiologe eine bestimmte Frage stellt, um beispielsweise den Ursachen rheumatischer Rückenschmerzen auf die Spur zu kommen, drückt er auf eine bestimmte Stelle des Armes. „Es ist ein bisschen so, als würden wir auf eine heiße Herdplatte fassen“, erklärt Dr. Kerstin Becker, die seit drei Jahren eine Praxis für Kinesiologie und Akupunktur in Hamburg betreibt. „In diesem Moment ziehen wir im Reflex die Hand vom Herd.“

Ähnlich funktioniere auch der Muskeltest: Auf die Fragen reagiere der Muskel reflexartig. Mal sei er ein-, mal ausgeschaltet. „Wenn bei einer Frage Stress entsteht, gibt es eine kurze Entkopplung von Nerv und Muskel“, sagt Becker. „Auch wenn die Person Kraft hat, kann sie den Arm nicht halten.“ Auf diese Weise habe sie zusammen mit ihrer Patientin herausgefunden, dass deren Rückenschmerzen vom WC-Reiniger herrühren. Oft seien die Ursachen aber auch psychischer Art, zum Beispiel Stress. Der werde dann unter anderem durch das Berühren von Entstressungspunkte an der Stirn abgelassen.

Der Muskeltest – er gehört zum Bereich „Touch for Health – gesund durch Berühren“, neben „Brain Gym“ eine weitere Methode in der angewandten Kinesiologie – ermögliche es, Muster für Krankheitsauslöser herauszufinden. „Es ist ein bisschen wie ein Psychopuzzle“, beschreibt Becker. Die Fachärztin für Urologie setzt auf komplementäre Medizin: „Optimal sind zwei Methoden, die sich ergänzen.“ Die Kinesiologie könne dort ansetzen, wo die Schulmedizin an ihre Grenzen stößt.

Untersuchungen allerdings muss jeder aus eigener Tasche bezahlen. „Kinesiologie ist keine Kassenleistung“, sagt Hermann Bärenfänger von der Techniker Krankenkasse. Auch hier gelte: Erst der Nachweis, dass sie wirke und entsprechend nachgefragt werde, ermögliche es, die angewandte Kinesiologie in den Katalog der Krankenkassen aufzunehmen. Eine entsprechende Prüfung habe aber noch nicht stattgefunden.

Über die Wirksamkeit immerhin könnte eine Teilnehmerin im Frauenkulturhaus Harburg Auskunft geben. „Ich habe die Übungen ein paar Mal zu Hause gemacht“, berichtet sie. „Trotz Schwerhörigkeit habe ich das Gefühl, geräuschempfindlicher zu sein.“ Jennifer Neufend