berliner szenen Angst und Lüsternheit

Blut und Russen in echt

Vormittags Fußball in einer Halle unweit der alten Reichskanzlei, bald baut hier der BND. Ein Spieler rennt auf den Ball zu, versucht ihn zu stoppen, rutscht aus und knallt mit dem Gesicht gegen die Wand. Er bleibt liegen, die Beine zucken vor Schmerz. Die Platzwunde über die ganze Stirn, das rote Blut, überraschend wie viel man davon hat, sammelt sich auf dem Parkett zu einem Klumpen, dick wie Pudding, der später mit Klopapier aufgewischt wird. Einer der Mitspieler, ein Russe, „ein fremdländischer Arzt“, wie er sich ausdrückt, legt den Verband. Dann kommen Sanitäter und bringen den Verletzten ins Bundeswehrkrankenhaus.

Abends im Kino: „Der Untergang“, die Russen stürmen Berlin. Im provisorischen Wehrmachtslazarett werden wie am Fließband Beine mit der Säge amputiert, während draußen Artilleriegeschütze Körper zerfetzen. Die Hoffnung des Einfühlungskinos ist es, Erfahrungen begreifbar zu machen. Wie fühlt es sich an, tagelang Beine abzusägen? Wie fühlt es sich an, den Untergang seiner Welt zu erleben? Seinen Vater hängen zu sehen? Weil die Szenen im Bunker so langatmig sind, beginnt man tatsächlich auf die Stellen zu warten, in denen das Schlachten in den Straßen gezeigt wird, auch weil es einen mehr berührt, zu sehen, wie Berlin leidet.

Nach dem Film weiß ich immer noch nicht, wie es sich anfühlt, in die Stirn geschossen zu werden. Ich weiß auch nicht, wie es sich anfühlt, mit der Stirn gegen eine Wand zu rennen. Aber zumindest, wie das aussieht, weiß ich seit heute. Im Kino habe ich an mir eine lüsterne Gier auf Grausamkeiten beobachtet, auf bisher in Kriegsfilmen noch nicht gezeigte Details, in der Turnhalle dagegen kaum den Mut gehabt hinzusehen: Angst vor echtem Blut. JOCHEN SCHMIDT