Was sollen diese Röhren?

Leerstelle (19): Ist es Kunst? Künstliche Röhren an der Straße des 17. Juni in Berlin

Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) beschäftigen sich an dieser Stelle vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens in Berlin. Heute lesen Sie die 19. und letzte Folge.

Ein Fall, der Kunst von technischer Notwendigkeit, Kunst vom Gebrauchsgegenstand schwer unterscheidbar macht – auch hier. Berlin, Straße des 17. Juni 124 bis 125. Dazwischen, im Gebüsch, wuchert das: ohne Titel, unbenamt, kein Urheber steht zur Verfügung. Wenn wir auch nachsehen könnten, in der Berliner Denkmalliste beispielsweise, in Bibliotheken, Archiven, sonst wo, wir wollen es diesmal nicht wissen. Wir sagen, es ist uns egal. Wir schließen uns dem Hauptstrom der Passanten an, der, seit geschätzten 30 Jahren das nicht näher bekannte Objekt ohne Aufsehen passiert. Tun wie Touristen und wissen von nichts.

Von Interesse ist kaum mehr als: Form, Disproportion und Farbe, feuerlöschrot. Die Form verweist uns auf die 70er und zitiert, ohne jede retrospektive Verfälschung, die dickhalsigen Comic-Köpfe (Flatheads) des Zeichners Jim Avignon.

Möglich, es ist doch anderes gemeint. Die Stationierung der Röhren (so nennen wir sie) zwischen zwei Bürohäusern der 60er-Jahre – links ein Franz-Fischer-Bau genannter Block der Chemischen Fakultät der TU, rechts die Fakultät Gestaltung der UdK – lässt mehr Schlüsse zu.

Franz Fischer gelang 1917 (nicht hier, in Mülheim) die Herstellung von Benzin aus Steinkohle, was er später mit einem Verfahren zur Gewinnung von Kohlenwasserstoff aus Kohle („katalytische Hydrierung von Kohlenmonoxyd“, auch Fischer-Tropsch-Verfahren, auch n CO + 2nH2 () (CH2)n + nH2O)) noch steigern konnte, um durch die Umwandlung von Kohle in flüssige Kraftstoffe das Deutsche Reich in ein erdölproduzierendes Land zu verwandeln, nützlich für den nächsten Krieg und darüber hinaus.

Bis 1960 wurde so der westdeutsche Treibstoffbedarf nicht aus Erdöl, sondern größtenteils Kohle gedeckt, danach blieben die DDR und Südafrika die weltweit einzigen Länder, die synthetisch Kohlenwasserstoffe erzeugten. Es hat bei beiden nicht gereicht. Möglich jedenfalls, dass die Benzinsynthese (in Röhren, in Röhren) die Gestalt des Objekts in den Büschen erklärt.

Andererseits: kann die Nähe zur Fakultät der Gestaltung auf 1. naturwissenschaftlich-künstlerische Kooperation deuten wie 2. ganz allein auf universitär gestützte Schöpferkraft. Heißt, es kann alles und auch nichts bedeuten.

Ob nun flache oder Tubenköpfe, synthetische Röhren oder, profan, eine an allen Ausgängen verlötete Entlüftungsanlage eines lange stillgelegten Luftschutzkellers – auffällig undurchsichtig bleibt das Ganze jedenfalls. So lässt ein Klopfen an verschiedener Stelle Vollmetall ahnen, an anderer einen Hohlkörper im fortgeschrittenen Zustand innerer Korrosion. Als Klettergerüst ist er im Übrigen unbrauchbar, zu voluminös der Röhrendurchmesser. Die Ansammlung eindeutig benutzten Klopapiers darunter lässt auf die Etablierung als öffentlicher Kackplatz schließen, wenn auch (vermutlich) vorzugsweise nachts. Die Berlinischen Gehwegkaros davor sorgen für das bekannte Lokalkolorit.

Bleibt die Frage des knallroten Anstrichs: der könnte einen Hinweis geben auf eine (früher) geplante Auslastung des Röhrenkörpers als Hydrant, wer weiß, vielleicht für eine geplante Welthauptstadt Germania, die ihre Ost-West-Achse haben sollte, hier, zwischen Moskau und Paris. Glück, dass wir es nicht genauer wissen, wo bliebe sonst der Spaß der Hermeneutik.

Und warum sollte eine rein metaphorische Auslegung der Anlage als Kunstgegenstand verboten sein: Hier fände sich nichts anderes als das die Großstadt kennzeichnende System geradliniger nur vordergründig zu entschlüsselnder Verschlingung. Nicht infrastrukturell, nicht geo- oder gar kulturpolitisch gesehen, nicht universell, nur: urban. THOMAS MARTIN