Das gemeinsame Jahr 1945

Viele Polen verstehen nicht, dass die allermeisten Deutschen die Preußische Treuhand nicht ernst nehmen. Ein Rechtsgutachten versucht, die erhitzten Gemüter abzukühlen

Forderungen nach Entschädigung haben keine Chance. Aber das ist den Giftspritzern egal In Deutschland kommt Mitgefühl mit den Vertriebenen auf, aber kein Revanchismus

Was mühsam an Vertrauen zwischen einst verfeindeten Völkern aufgebaut wurde, kann schnell wieder eingerissen werden, wenn Stereotype wieder erstehen, wenn Angst geschürt wird. Die Entwicklung des polnisch-deutschen Verhältnisses in den letzten beiden Jahren liefert hierzu reiches Anschauungsmaterial.

Der Initiative der Preußischen Treuhand – einer Aktiengesellschaft unter Beteiligung einer Reihe von Vertriebenenfunktionären –, auf dem Klageweg Restitution bzw. Entschädigung für nach dem Zweiten Weltkrieg enteignetes Eigentum in den ehemaligen deutschen Ostgebieten zu erlangen, begegnete das polnische Parlament mit der Drohung, im Gegenzug deutsche Reparationen für die Kriegsverluste Polens einzufordern. Falls es die eigentliche Absicht der Preußischen Treuhand gewesen war, mit ihren Klagen das polnisch-deutsche Klima zu vergiften, ist ihr das wirklich hervorragend geglückt. Glaubt man der vor allem von den rechtspopulistischen polnischen Parteien erfolgreich geschürten Propaganda, so herrscht der Bund der Vertriebenen heute über die öffentliche deutsche Meinung, und einem neuen deutschen „Drang nach Osten“ begegnet kaum politischer Widerstand.

Hier zeigt sich eine eigenartige Asymmetrie in der öffentlichen Wahrnehmung. Bei uns wird die Preußische Treuhand als lächerliches, obskures Unternehmen angesehen, von dem sich zudem die Führung des Bundes der Vertriebenen distanziert hat. In Polen hingegen wird sie als höchst reale Bedrohung empfunden – und als Indiz für einen allgemeinen Stimmungsumschwung in Deutschland. Auch informierte polnische Journalisten sind der Meinung, die Deutschen wollten endlich aus ihrer historischen „Täterrolle“ heraus, wollten selbst Opfer sein, ihre Verantwortung abschütteln, mit entsprechenden politischen und rechtlichen Konsequenzen gegenüber Polen. Als Beweise gelten das Projekt „Zentrum gegen Vertreibungen“, der Erfolg diverser Publikationen, die sich mit dem Bombenkrieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg beschäftigen, und eben: die Preußische Treuhand.

Diese Sichtweise wird auf polnischer Seite von den Rechtspopulisten teils angefacht, teils propagandistisch aufgeladen. Hemmungslos wird die Angst vor einer neuen deutschen Landnahme, diesmal durch Gerichtsbeschlüsse oder mittels des Euros, geschürt. Aber den nationalistischen Exzessen wäre kein Erfolg beschieden, gäbe es nicht auf beiden Seiten der Oder diese vorgängige Asymmetrie der Wahrnehmung. Und die entspringt nicht politischen Phantasmen, sondern realen historischen Erfahrungen.

Die Deutschen trennt heute ein tiefer emotionaler Abstand von der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands 1945, von der Übernahme aller staatlichen Gewalt durch die Alliierten, von den Potsdamer Beschlüssen, von der Abtrennung der deutschen Ostgebiete, von Flucht und Vertreibung. Nicht die Potsdamer Beschlüsse prägen ihr Leben, sondern die langjährige Integration in die demokratische Hemisphäre des Westens. Im Deutschland des Jahres 2004 sind die Vertriebenen keine offene, schwärende Wunde. Wenn ihnen dennoch, jetzt auch im Milieu der Linken verstärkte Anteilnahme begegnet, so gilt sie den Einzelschicksalen. Auch sorgt die große Distanz zu den 40er-Jahren dafür, dass Zwangsumsiedlungen, die damals weithin als legitimes politisches Mittel galten, heute Abscheu hervorrufen. Daraus folgt oft spätes Mitgefühl, keinesfalls aber nachholende historische Identifizierung

Im Fall Polens hingegen weckt das Jahr 1945 heute sehr lebendige Empfindungen. Polen als Opfer des Hitler-Stalin-Paktes und zweier Okkupationen wurde in Jalta und Potsdam trotz seines Widerstandes gegen die Deutschen als Objekt behandelt, wurde einfach wie auf Rädern nach Westen verschoben, die polnische Bevölkerung der abgetrennten Ostgebiete zwangsumgesiedelt, das Land der Jahrzehnte währenden sowjetischen Hegemonie überantwortet. Gleichzeitig aber wurde von den Siegermächten der polnische Staat in seinen neuen Grenzen anerkannt, wenn diese auch erst in einem Friedensvertrag festgeschrieben werden sollten. Auch mit der Aussiedlung der Deutschen waren die Alliierten einverstanden, sie sollte nur in humaner Weise erfolgen. Nicht nur im juristischen Sinn, sondern auch unter moralischen Gesichtspunkten galt und gilt die entschädigungslose Enteignung des deutschen Eigentums in den ehemaligen Ostgebieten den Polen als gerecht, als den Deutschen auferlegte Reparation für die von ihnen angerichteten Verwüstungen.

Wenn ein Verein wie die Preußische Treuhand heute deutsches Eigentum zurückverlangt, so sieht dies die deutsche Öffentlichkeit ganz überwiegend als atavistisches, der rechtlichen wie politischen Realität völlig zuwiderlaufendes Ärgernis, als ein zum Scheitern verurteiltes Manöver. Für viele Polen hingegen steht mit den Forderungen der Treuhand wieder das Jahr 1945 zur Debatte und auf dem Prüfstand. Plötzlich scheinen der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der polnisch-deutsche Grenzvertrag und der Freundschaftsvertrag keine Barriere mehr gegenüber den Forderungen der Preußischen Treuhand zu bilden. Man verweist auf die deutschen Vorbehalte in diesen Verträgen hinsichtlich „offener Vermögensfragen“. Man zitiert das Schreiben des Bundesausgleichsamts an die Bezieher von Lastenausgleich, in dem vorsorgliche Rückforderungen mit dem Hinweis verbunden werden, man möge doch in Polen den Klageweg beschreiten.

Die Vorbehalte bestehen, das Schreiben des Ausgleichsamts existiert, aber welche praktische rechtliche Wirkung kann von solchen Dokumenten ausgehen? Fragen wie diese fordern einen kühlen Blick auf die Rechtslage. Aber die Erregung ist in Polen so tief gehend, dass sogar offensichtlich unsinnige und aussichtslose Unterfangen wie eben der Vorratsbeschluss des polnischen Sejm, gegebenenfalls von den Deutschen Reparationen einzufordern, Gehör finden.

In dieser angespannten Situation hat ein Rechtsgutachten der Völkerrechtler Barcz und Frowein vom 2. November 2004 nicht nur rechtliches, sondern mehr noch psychologisches und politisches Gewicht. Schon die gemeinsame Mandatierung durch die deutsche und polnische Regierung ist ein bedeutsamer Akt, erweist sie doch die beiderseitige Absicht, an der polnisch-deutschen Kooperation auch in schwierigen Zeiten festzuhalten. Inhaltlich betont das Gutachten die Chancenlosigkeit von Restitutionsklagen auf nationaler wie internationaler Ebene. Das bietet nichts Neues, neu und wichtig hingegen ist der Versuch der beiden Wissenschaftler, eine gemeinsame Sichtweise der politisch und rechtlich so umstrittenen Nachkriegsgeschichte zu entwickeln – und dies nicht mittels fauler Formelkompromisse. Damit ist ein Standard umschrieben, dessen Kriterien nicht mehr der je nationalen Perspektive entstammen. Zeit für Abkühlung und Vernunft.

CHRISTIAN SEMLER