Zwischen Geist und Zeitgeist

Die CDU unter Angela Merkel ist wirtschaftsliberal, aber nicht rechts. Sie sucht Anschluss an jene urbanen Milieus, in denen sie die kulturelle Hegemonie seit langem verloren hat

Zu Zeiten Helmut Kohls wäre ein Bekenntnis zur linken Position im Historikerstreit nie zu hören gewesen

Es ist noch keine zwei Monate her, dass Friedrich Merz den „Anfang vom Ende der Sozialdemokratisierung“ der CDU anbrechen sah. Nun, nach den Beschlüssen des Parteitages von Leipzig, kann man sagen, das Ende der Sozialdemokratisierung ist schon in greifbare Nähe gerückt.

Damit hat die CDU ein erfolgreiches Kapitel christdemokratischer Geschichte abgeschlossen. Denn am Beginn der Sozialdemokratisierung stand Konrad Adenauer, in dessen Regentschaft das wohlfahrtsstaatliche Anrechtesystem begründet wurde, auf dem das „Modell Deutschland“ ruhte. Dieses Modell ist an den sich rasant verändernden Wettbewerbsbedingungen einer globalisierten Wirtschaft und den wachsenden Defiziten seiner Legitimation zerbrochen. Auf ihrem Leipziger Parteitag hat die Union dem Rechnung getragen und die katholisch geprägte Sozialpolitik ihrer bundesrepublikanischen Ära ad acta gelegt.

Diese Zäsur ist derjenigen, welche die Sozialdemokratie in den letzten Monaten vollzogen hat, durchaus vergleichbar, wenngleich in der Union die Bedeutung der Programmatik immer hinter jener der Führungspersonen zurückstand. Doch die Zeiten, da die CDU qua Tradition die prädestinierte Regierungspartei Deutschlands war, sind mit dem September 2002 vorbei. Deshalb hat Angela Merkel, wie die SPD in den Jahren 1996 und 1997, nun die programmatische Erneuerung dem möglichen Machtwechsel vorangestellt – und ihn damit wahrscheinlicher gemacht. Denn eine klare inhaltliche Positionierung bewahrt sie davor, in der föderal-konsensuell angelegten Alltagspolitik gegenüber einem Kanzler ins Hintertreffen zu geraten, der jeden Kompromiss auf seiner Haben-Seite verbuchen wird. Merkels Positionierung ist so klar, dass in ihrem Windschatten die FDP seit geraumer Zeit bei konstanten fünf Prozent dümpelt. Größer ist anscheinend der Bedarf an einem über das Merkel’sche Maß hinausgehenden Wirtschaftsliberalismus in der Republik nicht.

Noch bestimmen die Parteien ihre Profile zwischen den Polen Staat und Markt. Doch erweisen sich die Begrifflichkeiten, mit denen gestern noch rechts und links definiert wurden, als zunehmend untauglich. Die Auseinandersetzung der Zukunft wird nicht mehr darüber allein entschieden werden, wie der gesellschaftliche Wohlstand gerecht verteilt wird, sondern wesentlich darüber, wie seine Produktion so organisiert werden kann, dass sie die Teilhabe möglichst vieler gewährleistet. Exklusion wird zur entscheidenden Kategorie gesellschaftlichen Lebens, das Drinnen oder Draußen prägt das kollektive Bewusstsein mehr als das Oben oder Unten. Auf solche unstetigen Erwerbsläufe kann kein kollektives Sicherungssystem mehr antworten, weil seine Struktur zu starr ist. Dazu bedarf es einerseits flexibler Auffangnetze. Und es ist andererseits eine Politik gefragt, welche einer ihrer wohlfahrtsstaatlichen Klammern beraubten Gesellschaft Zusammenhalt geben kann.

Die CDU will dieses Auffangnetz merklich dünner knüpfen. Doch auch ihre Klientel ist vom Ausschluss bedroht. Arbeiter, Bürger und Beamte gehen auf die Straßen. Die CSU mit ihrem fein entwickelten Sensorium für die Stimmung des Volkes spürt diese Unsicherheit und ist bereit, ihr nachzugeben. Stoiber weiß um die begrenzte Attraktivität eines politischen Kurses, der die Entlastung der Wirtschaft zum Primat erhebt. Er ist ein ungedeckter Wechsel auf eine bessere Zukunft, der den gering Verdiendenden Einbußen an Geld und Sicherheit abverlangt, ohne ihnen eine nachhaltige Verbesserung der allgemeinen Beschäftigungslage versprechen zu können.

Die Politik der CDU zielt darauf, das Angebot an Arbeitskräften zu flexibilisieren und zu mobilisieren, doch steht dem keine entsprechende Nachfrage entgegen. Die Strategie, die den Mangel an Steuereinnahmen wie an Arbeitsplätzen beseitigen soll, basiert auf einer Wachstumsannahme, die eher utopisch anmutet. Auch die von Angela Merkel verkündeten „zweiten Gründerjahre“ vermögen diese Erwartungslücke nicht zu füllen, zumal im Vagen bleibt, welche Innovationen sich dahinter verbergen.

Und so steuert die Union einen Kurs, der vornehmlich von den wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Schwächen der Regierung lebt. Das kann ausreichen, um die Regierung abzulösen. Denn ein solcher Kurs hätte die Union bereits 2002 zum Sieg geführt, hätte sie es verstanden, ihn mit einer kulturellen Botschaft zu verknüpfen. Entscheidend für ihre seinerzeitige Niederlage war, wie die Vorsitzende Merkel kurz nach der Wahl luzide diagnostizierte, ihre geringe Attraktivität in den postmodern geprägten urbanen Milieus, denen Wahl nicht nur eine Frage des Portemonnaies, sondern auch des Lebensgefühls ist. Hier hat die CDU schon seit Jahren die kulturelle Hegemonie verloren und das strahlt auf die gesamte Gesellschaft zurück. Ihr gelingt es nicht, einen authentischen Begriff christdemokratischer Gesellschaftspraxis zu prägen, der sich gleichermaßen mit ihrer Tradition verbindet und mehrheitsfähig wäre. So sie es versucht, endet es in Biederkeit oder Anbiederei. Sie surft zwischen Heiligem Geist und Zeitgeist und produziert Images, aber keine klaren Bilder ihrer selbst. Sie hebt die junge Abgeordnete Katherina Reiche für den Wahlkampf aufs Podest und schickt sie gleich wieder in die Versenkung. Familie ist für sie da, wo Kinder sind, doch zugleich gründet diese im (steuerlich begünstigten) Sakrament der Ehe. Selbst wo die CDU in der Ausländerpolitik auf die Problemlagen dieser urbanen Milieus antwortet, weckt sie den Vorbehalt, Integration zu sagen und doch Abgrenzung zu meinen.

Dieses katholische Nebeneinander von Sonntagspredigt und Alltagspraxis hat über Jahrzehnte auch die Größe der Union ausgemacht. Doch schon nach der Wahl hat Merkel erkannt, dass beides stärker in Einklang gebracht werden muss, will die Union angesichts veränderter Lebenswelten Authentizität zurückgewinnen. Den Wertebezug der CDU deutlicher machen, hat sie das damals genannt. Was sie damit meinte, hat sie auf dem Parteitag klar gemacht.

Nach der programmatischen Erneuerung der CDU ist ein Machtwechsel wahrscheinlicher

Sie hat die CDU nicht nur entsozialdemokratisiert, sondern auch auf die fortwährende Anerkennung der Singularität des Holocaust als Essential ihres Selbstverständnisses verpflichtet. Sie hat damit eine jahrzehntelange Subkultur des Uneindeutigen, das auch völkischen Ressentiments Bewegungsräume ließ, beendet. Zu Zeiten eines Helmut Kohl wäre dieses klare Bekenntnis zur linken, zur Habermas’schen Position im Historikerstreit nie zu hören gewesen. Es sind solche Signale, welche eine Anschlussfähigkeit in jenen Milieus begründen, in denen die CDU-Vorsitzende zu Recht die Grünen und nicht die SPD als den Gegenspieler im Wettbewerb um die kulturelle Hegemonie ausmacht. Angela Merkel hat die CDU auf einen wirtschaftsliberalen Kurs gebracht. Rechts ist sie damit noch lange nicht.

DIETER RULFF