Allein im Sturm

Genau die richtige Depression: Graham Coxon in der Columbiahalle. Zu sympathisch für eine Rampensau

Erst spät reift die Erkenntnis beim Konzertgeher, sich tatsächlich in den tristen Novemberschneeregen hinaus zu begeben, weil da vielleicht doch noch etwas Großes passieren könnte. Gegen 20 Uhr noch einmal skeptisch Graham Coxons Album „Happiness in Magazines“ aufgelegt und dann aber sofort begeistert die Nachbarn an dem Erweckungserlebnis teilhaben lassen – genau die richtige Musik, um der Welt die eigene Ratlosigkeit und allgemeine Depression vor die Fresse zu halten: „Nothing to see, nothing to hear / Nothing to be, nothing to fear / Nothing to feel, nothing to hate / Nothing is real, it’s all too late!“

Also ruckzuck Jacke an, mit der S-Bahn durch die Neuköllner und Kreuzberger Parallelgesellschaften, wo Plakate des schwedischen Möbelherstellers längst auch auf Türkisch fordern, zu leben statt zu wohnen, und ab in eine immerhin halb volle (statt halb leere!) Columbiahalle. Im Publikum erstaunlich viel Jungvolk und der erwartbar hohe Mädchenanteil: Boys will be girls will be boys will be girls forever … Der Blur-Faktor macht sich eben immer noch bemerkbar: Die relativ große Fangemeinde jener Band, die Graham Coxon vor zwei Jahren im Streit verließ und zu der er, nach einem „sehr emotionalen“ Wiedersehen mit Damon Albarn und Kollegen vielleicht (die Interview-Exegesen dauern noch an) bald wieder stoßen wird.

Aber zunächst gilt es solo das aktuelle Werk vorzustellen, das ganz fantastische „Happiness in Magazines“, ca. drittbeste Platte des Jahres und im Sommer weitgehend unbemerkt veröffentlicht. Damit das anders werden soll, eröffnet Coxon gleich druckvoll mit „Spectacular“ und dem famosen „No good time“, den ersten beiden Songs auch des Albums. Im Studio vom Multiinstrumentalisten noch weitgehend allein eingespielt, funktioniert der wunderbar trockene Gitarrenschrammel-Pop glücklicherweise genauso gut live im lässigen Zusammenspiel mit seiner vierköpfigen Band. Stimmig auch, dass Gitarrist, Sänger und Bassist sich für das gleiche Peanuts-Pfadfinder-Outfit entschieden haben, quer gestreifte T- Shirts mit Halstuch. Die ersten Reihen hüpfen sofort begeistert mit, und der einst angeblich krankhaft schüchterne Graham Coxon sieht ganz zufrieden aus und kann es sich sogar leisten, zwischendrin stumm seine Gitarre zu stimmen.

Frappierend ist, dass Coxon – 35, Ex-Alkoholiker, allein erziehender Vater – jünger und schlaksiger als jeder im Publikum aussieht. Seine Bühnenpräsenz mit dem linkischen Wegkicken des rechten Beins erinnert kongenial an den jungen Bährle, der mit siebzehn die coolste Sau in meinem alten Tennisverein war. Das wirkt zwar erfrischend sympathisch, macht auf Dauer aber auch klar, dass Coxon kein richtiger Frontmann ist. Irgendwann werden die Pausen zwischen den Songs eben doch zu lang, macht sich ein Spannungsabfall im Publikum bemerkbar, unterhalten sich die Leute neben einem, was sie morgen machen werden. Grandiose Songs wie „Bittersweet Bundle Of Misery“, „Hopeless Friend“ und „All Over Me“ werden zur Kenntnis genommen und abgehakt und man wartet nur noch auf den großen Hit „Freakin’ Out“.

Also verlässt man das Konzert vorzeitig, aber nicht enttäuscht: Coxon bleibt der begnadete Songwriter und -performer, der zu weit mehr als Blur-Apokryphen in der Lage ist und sich vielleicht doch wieder eingemeinden lassen sollte. Draußen pfeift man fröhlich seine schönsten Melodien in den Herbststurm. Großes könnte immer noch passieren! ANDREAS MERKEL