Massenflucht in Wien

In Österreich haben über 3.000 Lehrer eine Lücke der Rentenreform genutzt, um in Frühpension zu gehen

WIEN taz ■ Am Montag begann an vielen Schulen Österreichs das Semester neu. Lehrpersonal wurde über Nacht an andere Schulen versetzt, Stundenpläne mussten geändert, Sprachgruppen zusammengelegt, freiwillige Übungen gestrichen werden. Denn mitten im Schuljahr ergriffen mehr als 3.300 Lehrerinnen und Lehrer die Gelegenheit, sich noch ohne allzu schmerzhafte Abstriche in die Frühpension zu retten. Eine Schule in Wien verlor mit einem Schlag sogar vier von 28 Professoren und die Direktorin

Mit dem 1. Januar tritt nämlich die Rentenreform in Kraft, die das Pensionsalter schrittweise auf 60 bzw. 65 Jahre anhebt. Viele der über 55-Jährigen hätten dann zwei oder mehr Jahre warten müssen, um dem stressigen Schulalltag Adieu zu sagen. Verschärft wurde die Krise durch eine Weisung des Bildungsministeriums, wonach ein Großteil der Posten nicht nachbesetzt werden darf. Der Rotstift regiert.

Der Spareffekt der Rentenreform wird vorerst noch ausbleiben. Denn vorerst zahlt der Staat drauf. Die Regierung hatte eine Lücke im Gesetz übersehen, die es den Lehrerinnen und Lehrern ermöglichte, schon ab 50 in den Vorruhestand zu flüchten. Bei Post und Bahn, wo zwecks Teilprivatisierung die große Schlankheitskur verordnet wurde, mussten schon vor Wochen hunderte Beamte den Dienst quittieren, viele von ihnen weit unter 55. Bei der ÖBB wurde sogar eine 32-jährige Frau in Frührente geschickt. Bundesbahnangestellte genießen besonderen Entlassungsschutz. Anders wäre man die Leute nicht losgeworden, argumentierte damals Infrastrukturminister Hubert Gorbach (FPÖ). Nachbesetzt wird, wenn überhaupt, mit Vertragsbediensteten, die leichter kündbar und möglichst nicht gewerkschaftlich organisiert sind.

In den Schulen verlief der 1. Dezember nicht ganz so schlimm, wie Elternverbände und Lehrergewerkschaft gefürchtet hatten. Zumindest blieb keine Klasse ohne LehrerIn. Leidtragende sind jene ProfessorInnen, die binnen einer Woche an eine andere Schule, oft in eine andere Stadt, versetzt wurden. Und die Kinder, die künftig auf manche Fächer und Stunden, die das Schulleben interessanter machten, verzichten müssen.

Die Massenflucht vieler relativ junger Pädagogen ist für Sophie, Mutter und Lehrerin, leicht erklärbar: Zusätzliche Verwaltungsaufgaben, steigende Klassenschülerzahlen und weniger Geld für Überstunden machen das Lehrerdasein immer unattraktiver. RALF LEONHARD