Frau Richterin wird Rechtlerin

Annette Schücking-Homeyer war bereits eine Pionierin auf dem Richterstuhl. Als Pensionärin kämpfte sie um ein Frauenhaus in Warendorf und für das Gesetz gegen häusliche Gewalt an Frauen

„Ich war ein eher ängstliches Mädchen, nicht so mutig wie meine Schwester“

AUS DETMOLD STEFAN DERSCHUM

Annette Schücking-Homeyer lebt zwei Leben gegen Ungerechtigkeit und Gewalt an Frauen. Erst wurde sie in ihrem Beruf zur Pionierin der Emanzipation, seit ihrer Pensionierung streitet die Detmolderin erfolgreich gegen Gewalt, die Frauen in den eigenen vier Wänden trifft – heute begeht die UNO den Weltgedenktag gegen Gewalt an Frauen.

Annette Schücking-Homeyer steuerte sicher durch ihre Lebensgeschichte, jetzt überschlägt sich ihre Stimme fast: „Wir freuten uns so sehr, als wir am 7. Januar 1998 von dem Erlass des nordrhein-westfälischen Innenministeriums lasen: Im Falle von häuslicher Gewalt musste die Polizei endlich von Amts wegen einschreiten und ermitteln. Das war wunderbar, und wir waren auch stolz.“

Ist die glückliche Streiterin also auch eine Frauenrechtlerin? Vielleicht sogar mehr, als sie es ahnt. Die zierliche Frau – seit 1967 lebt und arbeitet sie in Detmold – zweifache Mutter und ehemalige Richterin meint zwar, dass sie erst als Rentnerin ihr feministisches Wirken begann. Doch auch in ihrem Berufsleben war die gebürtige Dortmunderin eine Vorreiterin. Gelten lassen will sie das nicht: „Sie wollen sicher auch endlich etwas über mein Engagement für Frauenrechte hören“, sagt sie und dann wuchtet Schücking-Homeyer einen Aktenordner auf den Nierentisch, dessen Inhalt die Pappdeckel auseinander drückt: Dutzende von Eingaben an das Detmolder Sozialgericht, das nrodrhein-westfälische Innenministerium und Justizministerium liegen in der Mitte des Wohnraums der Seniorin.

Annette Schücking wächst im Münsterland in einer bürgerlichen, aufgeklärten Familie auf. Schon das 14-jährige Mädchen, das in dem Jagdschlösschen ihres Urgroßvaters, dem Schriftsteller Levin Schücking lebt, will für Recht sorgen: „Aber ich war ein eher ängstliches Mädchen, nicht wie meine Schwester Sibylle, die sich immer viel getraut hat“.

Die etwas ängstliche Annette studiert dann Jura, schleicht aber zunächst nur zögerlich auf Justitia zu: „Einen Richterposten traute ich mir nicht zu“.

Also beschließt sie Rechtsanwältin zu werden. „Ich habe dann 1948 mit sechs weiteren Kolleginnen in Dortmund den Juristinnenbund gegründet. Ich glaube, ich bin das einzige noch lebende Gründungsmitglied“ – eher beiläufig erwähnt das die Detmolderin. Heute zählt der Juristinnenbund mehr als 2800 Mitglieder, unter ihnen Ministerinnen und Senatorinnen. „Mittlerweile haben sie sich richtig rausgemacht“, freut sich Schücking-Homeyer, das Ehrenmitglied.

Als der Juristinnenbund gegründet wird, macht Annette Schücking auch ihrem Ehemann einen Heiratsantrag: „Das war tatsächlich ungewöhnlich“ – fast erkennt sie darin mehr weiblichen Pioniergeist als in der Vereinsgründung. Dass „Schücking“ heute wieder die Spitze ihres Familiennamens bildet, deutet eigene schlechte Erfahrungen an, konkret wird sie nicht. 1988 trennt sich Annette Homeyer von ihrem Mann. Er lebt heute nicht mehr – sie verliert aber keinen Vorwurf, sagt nur: „Mein Mann war musikalisch sehr begabt, aber der Krieg hat ihn traumatisiert. Solche schrecklichen Erlebnisse brechen immer wieder durch – wie bei einem Kind, das missbraucht wurde.“

Annette Homeyer erlebt unstete Jahren zwischen Justizministerium und Gerichten in Düsseldorf oder Münster, und Ungleichbehandlung durch Männer: Der Münsteraner Regierungspräsident wollte keine studierte Frau. Auch der Präsident des Verwaltungsgerichts in Düsseldorf lehnt sie ab: „Dass ich bei zwei Bewerbern den Mann nehme, müssen Sie doch wohl verstehen.“ Sie wird erste Strafrichterin in Duisburg, eine Lokalzeitung widmet der 34-Jährigen „schlanken, dunkelhaarigen Frau“ eine Drittelseite; die Vorreiterin wird zur bunten Meldung – und unglücklich. Nach drei Monaten wechselt sie zum Sozialgericht in Düsseldorf: „Menschen wegzusperren waren furchtbare Entscheidungen. Am Sozialgericht aber gab es begeisternde Prozesse. Das war das wahre Leben.“

Sie wird schwanger mit Sohn Jan und fühlt sich „sauwohl“. Ihr Bauch wächst bis zur Geburt unter der schwarzen Robe. Und Annette Homeyer richtet weiter – eine berufstätige Mutter im Jahre 1956! Zwei Jahre später wird sie zweifache Mutter. Weil ihr Mann nahe der Natur leben will, siedelt die Familie 1967 nach Detmold um. Annette Homeyer wechselt ans dortige Sozialgericht, der Mann schreibt Fachartikel über Musik, die Kinder wachsen heran. Das muss reichen.

“Jetzt wollen sie sicher endlich etwas über mein Engagement für Frauenrechte hören!“, ruft also Annette Schücking-Homeyer und beginnt mit der Geschichte ihres zweiten Lebens: „Ich habe zwar schon Ende 1981 eine Eingabe zur Gleichberechtigung der Frau bei meinem Gerichtspräsidenten gemacht, doch weiter konnte ich mich nicht herauswagen.“ Als Richterin habe sie unabhängig bleiben müssen. Ihr öffentliches Engagement für den Feminismus begann erst gegen Ende der beruflichen Laufbahn, 1983.

Ihre „mutige“ Schwester Sibylle gründete in Warendorf den Verein “Frauen helfen Frauen“. In einer Mietswohnung richtet sie ein Frauenzentrum ein. Geschlagene Frauen finden ein Refugium, das jedoch nicht funktioniert. Wütende Männer stehen auf dem kleinstädtischen Marktplatz vor der Tür der Zuflucht. Also unterstützt die damals 59-jährige Richterin den Verein mit einem Darlehen über 90.000 Mark – eine ehemalige Schule wird zu einem der ersten Frauenhäuser in Deutschland. „Auf dem Land waren wir ganz sicher das erste Haus dieser Art“, weiß Annette Schücking-Homeyer. Sie habe damals bei allen Richtern und Staatsanwälten Münsters um Geld gebettelt. Nun durfte sie ja öffentlich wirken.

Der Aktenordner auf dem Nierentisch füllte sich. Ende der 80er habe sie einmal einen Polizisten gefragt, was er im Falle von häuslicher Gewalt unternehmen könne. „Dem Mann sagen: Reißen Sie sich zusammen. Der Frau: Reizen Sie ihn nicht zu sehr“, sei die Antwort des Beamten gewesen. Also beginnt die Pensionärin ihre Offensive auf Ministerien: Eingaben, Eingaben, Eingaben. Die Korrespondenzen fluten den Ordner, und als gebe es das Gewaltschutzgesetz und das modernisierte Polizeigesetz NRW immer noch nicht, betont die pensionierte Richterin streng: „Die Vorfälle müssen von Amts wegen durch die Polizei verfolgt werden.“

Heute passiert genau das, heute darf die Polizei dem prügelnden Täter ein zehntägiges Hausverbot erteilen und muss Strafanzeige erstatten. 2002 nutzen die Beamten ihr modifiziertes Recht in 4.894 Fällen, ein Jahr später sogar 6.931 Mal.

Annette Schücking-Homeyer wirkt entspannt. Ihr Kampf hat sich gelohnt – die Wege in die Ministerien, die mitunter grotesken Hinweise auf die zu schützende Privatsphäre der häuslichen Gemeinschaften. 1997 kommt ein Erlass, vier Jahre später wird ein Gesetz daraus. Wie viel Anteil sie daran hat, weiß die Trägerin des Landes-Verdienstordens nicht, will es auch nicht wissen – sie scheint in sich zu ruhen.

Auch als die 84-Jährige noch einmal ihren Mann erwähnt. Nach der Trennung habe sie sich gut mit ihm verstanden, ihn bis zu seinem Tode gepflegt. „Ich habe ihn schließlich lieb gehabt.“ Pause, eine lange Pause. „Er vielleicht nicht so“, sagt sie, zum ersten Mal traurig.