Jeden Tag ein Opfer retten

In Schleswig-Holsteins Jugendknästen erzählen junge Täter bei Anti-Gewalt-Trainings von ihren brutalen Verbrechen. Der Auftritt vor Psychologen und Mithäftlingen kostet oft mehr Mut, als Menschen zusammenzuprügeln

Aus SchleswigEsther Geißlinger

Nennen wir ihn den Helden. Nicht, dass sein bisheriges, 17-jähriges Leben besonders heldenhaft gewesen wäre. Aber er trägt den Namen eines Helden einer orientalischen Legende – einer, die schlecht endet: Der Held rettet zwar das Dorf, bekommt die Prinzessin aber nicht. Vielleicht haben seine Eltern gedacht, dass ihr Sohn alles schafft, die Rettung und die Heirat.

„Pass auf, dass du nicht wirst wie dein Bruder“, hatte der Vater den Helden gewarnt, als der klein war. Da saß der Bruder im Knast wegen versuchten Totschlags. „Wenn du im Gefängnis landest, werde ich dich nicht besuchen“, hatte der Vater gesagt, als der Held etwas älter war und bei der Polizei bekannt. Seit der Held im Gefängnis sitzt, war der Vater noch kein Mal da.

Das Messer an der Kehle

Heute steht der 17-Jährige mit dem Heldennamen vor Leuten und erzählt, warum er hier ist, in diesem Raum, weiße Wände, Gitter vor den Fenstern, Stühle an den Wänden, eine Papiertafel in seinem Rücken, auf das eine Frau seine Lebensgeschichte schreibt, wie er sie erzählt. Das kostet Mut – das ist viel schwieriger, als andere zusammenzuprügeln.

Das hat der Held getan, und noch mehr: Mit 15 hat er regelmäßig Raubüberfälle begangen, mit 16 hat er dabei eine Waffe benutzt. Einmal hat er einem Opfer ein Messer an die Kehle gehalten. „Der hat gezittert“, sagt er und klingt, als sei er erstaunt darüber.

Der Held steht in seinem hellblauen Shirt und den Jeans da in der Haltung eines Fußballers kurz vor dem Elfmeter, die Hände vor dem Unterleib, die Beine leicht gespreizt, die Halsmuskeln gespannt, aber er guckt geradeaus und antwortet auf jede Frage. Die fallen schnell und hart, fast wie Schläge.

Zwei Psychologen und vier Co-Trainer leiten das Anti-Gewalt-Training, Mitarbeiter des Berufsfortbildungswerkes (bfw). Fragen stellen dürfen auch die anderen Jungen – sie alle werden einmal da stehen und von sich erzählen, von sich und ihren Taten. Alle haben mit Gewalt zu tun: Überfälle mit gezogener Waffe, Prügeleien, Tritte. Und alle sind sie hier, weil sie so etwas in Zukunft nicht mehr tun wollen. In das Anti-Gewalt-Training in der Schleswiger Jugendvollzugsanstalt kommt keiner rein, der im Vorgespräch nicht deutlich macht, dass er es ernst meint.

Fünf Monate dauert ein Kursus, etwa zehn Jugendliche nehmen daran teil. „Wir haben mehr Bewerber als Plätze“, erklärt Diplom-Psychologin Kathrin Behrens, die mit ihrem Kollegen Christian Scholz die Kurse leitet. Das Land Schleswig-Holstein finanziert die Maßnahme in den beiden Jugendgefängnissen Schleswig und Neumünster. Eine notwendige Ausgabe für die Landesregierung, schließlich „zeigt sich der Zivilisationsstand einer Gesellschaft daran, wie sie mit ihren schwierigen Jugendliche umgeht“, wie Justizministerin Anne Lütkes (Grüne) jüngst im taz-Interview sagte.

Über Erfolgsquoten will Behrens nicht sprechen. „Dass es etwas bringt, ist erwiesen“, sagt sie. „Und wir sehen nicht viele wieder.“ Das Training bietet keine Garantie, dass Jugendliche in Zukunft keine Straftaten mehr begehen. „Aber wenn wir nur einen erreichen, retten wir jeden Tag potenzielle Opfer.“

Die schlimmste Tat

Vielleicht ist der Held dieser eine. Vielleicht auch nicht. Seine Lebensgeschichte klingt wie von einem Multi-Kulti-Feind als abschreckendes Beispiel ausgedacht: Abgebrochene Schulkarriere, eine Schwester floh vor einer Zwangsheirat, der Vater schlägt seine neue Frau. Es geht um Ehre und Familie, und in der Türkei, findet der Held, ist alles viel besser, weil die Leute Muslime sind und die Frauen Kopftücher tragen.

Oder ist es nicht so einfach? „Deutschland ist mein Land, hier bin ich aufgewachsen“, sagt der Held. Er würde auch eine Christin heiraten – seine jetzige Freundin ist Polin. Eigentlich geht es um andere Dinge als Koran und Kopftuch, es geht um einen Vater, vor dem er Angst hatte: „Jeder hat doch Angst vor seinem Vater.“ Es geht darum, dass seine Mutter starb, als er fünf Jahre alt war, dass er geheult hat, als er zu einer Pflegefamilie kam und „Mutter“ zu einer fremden Frau sagen musste. Da hat er in der Schule „Scheiße gebaut“ und ging nicht mehr regelmäßig hin, floh am Ende und schlug immer zu, wenn er sich unsicher fühlte. „Ich hau die Wut auf andere raus.“

Das Anti-Gewalt-Programm teilt sich in vier Phasen: Zuerst muss jeder seine Biographie vorstellen, in einem späteren Schritt wird er mit seiner schlimmsten Tat konfrontiert – einer der Jugendlichen im Raum hat mit Fäusten und Füßen einen Obdachlosen in ein fast lebloses Stück blutendes Fleisch verwandelt, ein anderer hat zusammen mit seiner Freundin Taxifahrer ausgeraubt. Welche war die schlimmste Tat des Helden? Als er einem Gleichaltrigen ein Messer an die Kehle hielt und sich staunend freute, wie der in seinem Griff zitterte?

Unbeholfene Tanzschritte

Gewalttätern fällt es oft schwer zu begreifen, was in anderen Menschen vorgeht. Darum finden parallel zu den persönlichen Geschichten Übungen statt – etwa diese: Scholz und Behrens verteilen Kärtchen, auf denen Begriffe stehen: „ängstlich“, „fröhlich“, „arrogant“. Die Jugendlichen müssen diese Emotionen vorspielen, die anderen erraten, welche es ist. „Glücklich“ – der Junge, der dieses Kärtchen gezogen hat, steht mit starrem Gesicht, dann macht er schließlich ein paar unbeholfene Tanzschritte. „Es ist schwer, das zu zeigen. Denn hier gibt es keinen Grund, um glücklich zu sein“, sagt er.

Ein anderer, hübsch wie ein Märchenprinz, sagt, er würde nie Gefühle zeigen. Aber dann würden sich alle Menschen ihm gegenüber falsch verhalten, meint Kathrin Behrens: „Du bist innerlich traurig, aber die anderen wissen es nicht und trösten dich deshalb nicht. Wirst du dann aggressiv?“ Ja, gibt der Prinz zu, und Behrens fragt, was denn die Folge sei? „Krankenhaus“, murmelt einer vernehmlich in die Runde, und es ist nur halb ein Witz.

„Wir reißen ihre Legitimationsstrategien ein“, erklärt die Psychologin. „Aber gleichzeitig müssen wir sie wieder aufbauen. Wir müssen ihnen klar machen, dass ihre Taten schlecht sind, aber nicht sie selbst.“ Denn je tiefer das Selbstwertgefühl, desto größer die Gefahr, dass der Jugendliche in der nächsten schwierigen Situation wieder zuschlägt. „Ich möchte Hilfe“, sagt der Held. „Weil ich Probleme in meinem Leben habe. Weil meine Familie unter mir leidet.“

Wenn er in einem Jahr entlassen wird, hofft er, dass er bei einem Bekannten seines Vaters Arbeit bekommt. Wohnen kann er vielleicht bei seiner Schwester – derjenigen, die einer Zwangsheirat nur durch Flucht entging. „Aufpassen“ will er auf sie, meint der Held ganz ernsthaft.