Die Großmacht beugt sich dem Recht

US-Präsident Bush hebt die Zölle auf europäische Importe auf, mit denen er die nicht konkurrenzfähigen US-Stahlfirmen schützen wollte. In letzter Minute: Mit Genehmigung der WTO hatte Europa bereits Strafzölle auf US-Importe verhängt

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Nach massivem internationalen Druck haben die USA ihre umstrittenen Zölle auf Stahlimporte vorzeitig aufgehoben. Dadurch wurden milliardenschwere Strafmaßnahmen der Europäischen Union abgewendet. Die EU-Kommission reagierte erleichtert und kündigte umgehend an, ihrerseits alle Importbarrieren für Stahl aufzuheben. Auch China und Japan kündigten den Verzicht auf Strafen gegen die USA an.

Für US-Präsident George W. Bush war es eine unangenehme Entscheidung. Er selbst traute sich gar nicht erst vor die Kameras und schickte am Donnerstag seinen Sprecher und den US-Handelsbeauftragten Robert Zoellick an die Pressefront, um die Aufhebung der Zölle zum Schutz der heimischen Stahlbranche bekannt zu geben. Denn Bush steckte in einem Dilemma. Er riskiert, wichtige Wählerstimmen in den Stahl produzierenden Regionen zu verlieren. Andererseits drohten die EU und Japan den USA mit Sanktionen, sollten die Schutzzölle beibehalten werden – ein Schritt, der wiederum der US-Exportwirtschaft geschadet hätte.

Das Weiße Haus begründete seine Entscheidung damit, dass die Tarife „ihr Ziel erreicht“ hätten und somit überflüssig seien. Der US-Stahlsektor habe die fast zweijährige „Atempause“ genutzt, um sich zu umzustrukturieren. Jeder Eindruck wurde vermieden, man habe sich internationalem Druck gebeugt. Auch kein Wort davon, dass die Welthandelsorganisation (WTO) die Zölle vor drei Wochen für illegal erklärt hatte. Bush ließ zudem erklären, der Wirtschaftsaufschwung erlaube die vorzeitige Abschaffung der Tarife, die ursprünglich bis März 2005 geplant waren. Indirekt drohte er sogar mit neuen Handelshemmnissen, indem er ankündigte, die Stahlimporte weiter zu beobachten und gegebenenfalls „rasch zu reagieren“.

Der Protest von Stahlindustrie und Gewerkschaften ist Bush sicher. Firmen warnten, die eingeleitete Umstrukturierung werde nunmehr gefährdet. Die Stahlarbeitergewerkschaft „United Steelworkers of America“ posaunte, dass die Regierung ihr den Boden unter den Füßen wegziehe, und beschuldigte Bush, „vor der europäischen Erpressung“ kapituliert zu haben. Des einen Leid ist jedoch des anderen Freud. Das Stahl verarbeitenden Gewerbe, vor allem die Autoindustrie und Stahlimporteure gratulierten Bush zur Aufhebung der Zölle. Ihre Produkte wurden durch die Zolltarife verteuert. Überdies fürchteten viele andere Branchen schwere Einbußen durch die von der EU angedrohten Sanktionen gegen US-Waren und einen Dämpfer für den wieder auf Hochtouren laufenden Wirtschaftsmotor. Die Kehrtwende dürfte Bush ein Jahr vor der Präsidentenwahl dennoch besonders in den Regionen mit Stahlstandorten in Bedrängnis bringen.

Kritiker sahen in den im März 2002 verhängten Schutzzöllen ohnehin nur ein wahltaktisches Manöver, ein Stimmenfang in Staaten wie Pennsylvania, Ohio, Michigan und West Virginia mit einem hohen Anteil an Wechselwählern. Sie könnten bei einem knappen Rennen um das Weiße Haus wahlentscheidend sein.

Doch die US-Regierung ist der Ansicht, dass die Beibehaltung der Zölle insgesamt mehr Schäden in der Gesamtwirtschaft angerichtet als wahltechnischen Nutzen gebracht hätte. Für die Opposition, die händeringend nach Angriffsflächen im Weißen Haus sucht, ist Bushs Rückzieher zunächst ein gefundenes Fressen. Präsidentschaftskandidat Howard Dean, bislang aussichtsreichster Bewerber unter den Demokraten, warf Bush vor, Politik auf dem Rücken der Menschen zu betreiben. Er nannte die Entscheidung einen Vertrauensbruch, da Bush den Eindruck erwecken wollte, er sorge sich um die Situation der Stahlarbeiter. „Wäre dies der Fall, würde er sie heute nicht aufheben“, sagte Demokrat Dean.

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