berliner szenen Der Balkan kommt

Bar mit Zahnarztpraxis

G. findet jeden Trend – wochenlang war er abgetaucht, dann kam die Einladung: Eröffnung seiner neuen Bar „Balkanschluchten“. Ein Ladenlokal irgendwo beim alten Schlachthof, weißes Neonlicht, Plastiktische mit Spitzendecken, Fototapete einer Berglandschaft. Fast wären wir vorbeigegangen, doch dann erkannte ich G. in dem Mann hinterm Tresen: schwarz gefärbte Haare, mit Haarwasser geglättet, Schnauzbart, ein Sakko über Pullunder und Hemd. Er begrüßt uns mit schmatzenden Küssen und schenkt ein. 100 Gramm auf ex: wir ringen nach Luft, G. gießt nach: „Slivowitz aus eigener Herstellung, 60 Prozent!“ Langsam lässt der Schmerz nach: „Willkommen im wahren Leben, wo die Pferde noch feurig sind und der Schnaps und die Liebe noch brennen. Man ist zwar arm, aber ein Auge steht für ein Auge und ein Mann zu seinem Wort.“

Wir sind beeindruckt, und G. zündet sich genüsslich eine Zigarette mit Pappfilter an. „Beste Schmuggelware. Der Balkan ist im Kommen, das war mir spätestens nach der Badelatschenmode vom Sommer klar – billiges Material, hässliche Farben …“ G. ist vorbereitet, stolz zeigt er uns sein Geschäft mit dem entsprechenden Equipment im Nachbarhaus: perlenbesetzte Synthetikpullover, ballonseidene Trainingsanzüge, Uniformen und Schaffelle für die Traditionalisten.

„Hinten habe ich noch eine alte Zahnarztpraxis drin – wegen der passenden Zähne, entweder kunstvoll gebrochene Lücken oder massiver Goldersatz, für Weicheier gibt’s den Echtzahn auch koloriert.“ Das Geschäft brummt, G. plant bereits Filialen. „Wo dieser wilde Osten genau liegt, spielt gar keine Rolle, der beginnt sowieso immer jenseits der eigenen Grenzen: auch Friedrichshain kann Balkan sein.“

CARSTEN WÜRMANN