Heldenlieder für die deutsche Jugend

Walter Jens, Peter Wapnewski und das Studium in der Nazizeit: Wer die Hilflosigkeit junger Gelehrter während des „Dritten Reiches“ verstehen will, sollte sich die Geschichte der Germanistik ansehen. In dieser anspruchsvollen Wissenschaft wurde stets ein intensives nationales Selbstbewusstsein gepflegt

Die Philologen beeilten sich, ihre Nützlichkeit für eine nationale Pädagogik zu beweisen

VON JÜRGEN BUSCHE

Die Fragen, die jetzt hier und da zur Biografie von bestens renommierten Gelehrten wie Peter Wapnewski oder Walter Jens gestellt werden, gehören in zwei Themenbereiche, die scharf voneinander zu trennen sind. Der eine umfasst die Details zur Mitgliedschaft in der NSDAP. Hier hat soeben das Bundesarchiv die Auffassung bestätigt, dass wohl kaum jemand Mitglied der Hitlerpartei wurde, der das nicht wollte oder gar nicht wusste. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite war so ein Parteieintritt unter den Bedingungen der etablierten – und von vielen Deutschen gewollten – Diktatur alles andere als eine politische Entscheidung, wie man sie in demokratischen Verhältnissen mit einem Parteieintritt trifft. Und für ganz junge Menschen, die das nur als Übergang von der Hitlerjugend in die Partei wahrnehmen mögen, gilt das erst recht. Über die Einstellung eines jeden Einzelnen zu dem, was er tat, ist damit allerdings nichts gesagt.

Der andere Themenbereich muss die Determinationen einbeziehen, die durch Traditionen und Karrierebahnen geschaffen wurden. Diesen kann man sich zwar entziehen – und konnte das auch zwischen 1933 und 1945 –, aber das setzt Weitsichtigkeit, Kritikfähigkeit und vor allem Eigenwilligkeit voraus. Gerade zu Letzterem verhilft Erziehung in Deutschland nicht. Robert von Ranke-Graves bemerkte einmal, wenn man fünf Engländer nach einer Meinung zu irgendetwas frage, erhielte man eben fünf Meinungen. Wenn man fünf Deutsche frage, wüsste man daraufhin, was die meisten Deutschen denken. Der Herdentrieb ist in Deutschland, zumal in den Geisteswissenschaften, stark ausgeprägt und findet stets neue Formulierungen zu seiner Selbstdefinition. Gegenwärtig ist dann von der Anschlussfähigkeit einer Theorie oder eines Gedankens die Rede.

Will man die Wehrlosigkeit, ja Hilflosigkeit auch hoch begabter junger Gelehrter im so genannten Dritten Reich oder in der Weimarer Republik oder an der preußisch-protestantischen Universität des wilhelminischen Kaiserreichs verstehen, muss man diese durchaus deutsche, seit Fichte philosophisch ungeheuer aufgeladene Besonderheit berücksichtigen. Und dabei galten die Fächer Philosophie, Geschichte und Germanistik noch als besonders deutsche Fächer. Hier wurde, und das kann man nicht ernst genug nehmen, ein intensives nationales Selbstbewusstsein gepflegt, das zu nationaler Politik nie gedrängt werden musste. Und es wurde formal höchst anspruchsvoll Wissenschaft betrieben, die, in ihren fachlichen Regeln selten korrumpierbar, den Anspruch erhob, in der Welt beispielhaft zu sein. Und die vor Hitler, zur Zeit Hitlers und nach Hitler in vielen Teilen der Welt auch so anerkannt wurde. Ein junger Philologe wie Walter Jens konnte während des Zweiten Weltkriegs in Freiburg bei Walther Rehm die beste Germanistik lernen, die überhaupt erlernbar war. Aber zu den politischen Verhältnissen ringsherum konnte er günstigenfalls erfahren, man brauche das alles nicht ernst zu nehmen.

Aber dieses politisch begründete, doch politisch nicht irritierbare Selbstbewusstsein ruhte auf einem massiven Sockel: seiner Geschichte. Die Frühromantiker hatten die Germanistik entdeckt, als sie begannen, sich für die alten deutschen Dichter zu interessieren und ihre Texte philologisch ernst zu nehmen. Aber schon damals trat eine Ambivalenz zutage. Glaubte Friedrich Schlegel noch, mit der Chance der Deutschen, über ihre Literatur zu einer Ursprache vorstoßen zu können, einen nationalen Vorzug mit einem universalistischen Ziel verbinden zu können, fasste sein Bruder August Wilhelm auch handfestere Möglichkeiten ins Auge. Unter dem Eindruck der Niederlagen gegen Napoleons Soldaten sagte er in Berlin, die alten deutschen Heldenlieder eigneten sich vorzüglich dazu, der deutschen Jugend die Härte beizubringen, die sie für den Krieg brauche.

Solche Ambivalenz blieb der Germanistik erhalten. Hier sorgte sie sich als Philologie tatsächlich um eine universalistische Wissenschaftlichkeit, die in Konkurrenz trat zu der bis dahin allein das akademische Feld beherrschenden Klassischen Philologie. So begründeten die Deutschen die Romanistik, und wenn in Irland die Straßenschilder in Englisch und in Gälisch ausgezeichnet sind, so verdanken das die Iren den deutschen Gelehrten, die die Grundlagen für das Studium des Gälischen schufen. Diese Gelehrten waren es auch, die in Deutschland die ersten Demokraten erzogen, in der Paulskirche saßen und in der Bevölkerung sich eines hohen Ansehens erfreuten: Ludwig Uhland, die Brüder Grimm. Aber in dem, was bald Realpolitik genannt wurde, waren sie Verlierer.

Mit der Gründung des Bismarckreichs und der nachdrücklicheren Betonung der wirtschaftlichen und imperialen Interessen im vereinigten Deutschland kam auch die Frage auf, ob das denn alles so sinnvoll sei, was man in der Schule zu lernen habe. Der Jurist und Althistoriker Theodor Mommsen, zeitweilig Reichstagsabgeordneter, wehrte sich gegen die Absicht, die Alten Sprachen zurückzudrängen, mit dem Einwand, wenn man Richter habe, die kein Latein mehr beherrschten, dann könne man auch gleich Metzger an ihre Stelle setzen. Für die junge Germanistik, die nun erst auch neuerer Literatur ihre Aufmerksamkeit widmete, reichten zur Selbstbehauptung solche bissigen Aperçus keineswegs. Vielmehr beeilten ihre Fachvertreter sich, die Nützlichkeit ihrer Arbeit für eine nationale Pädagogik zu beweisen. Das lässt sich an den Veränderungen der Lesebücher für den Deutschunterricht in dieser Zeit nachweisen. Aber auch bedeutende Gelehrte machten bei dieser Akzentverschiebung hinsichtlich des Interesses für deutsche Literatur mit.

Und wiederum ein Doppelgesicht: Auf der einen Seite entstanden so die stickigen Verhältnisse an den deutschen Schulen, unter denen zum Beispiel die Dichter des Expressionismus entsetzlich litten. An der Universität hingegen wurden zwischen den Festtagsreden fürs nationale Gewissen ungerührt, was freilich auch hieß, ohne Begeisterung, an den hohen Standards gearbeitet, die das Fach auszeichnete. Und nicht nur dieses Fach. Die deutschen Althistoriker waren bald der Ansicht, nur sie zählten auf der Welt. Bei den Philosophen hatte schon Hegel 1817 behauptet, in Europa werde überhaupt nur in Deutschland Philosophie getrieben. In einem Vortrag zu Ehren Kants nach hundert Jahren behauptete Wilhelm Windelband, Philosophie gebe es nur von Griechen und Deutschen. Aber als nach dem Ersten Weltkrieg Martin Heidegger die Auffassung vertrat, philosophieren könne man allein in griechischer oder in deutscher Sprache, hatte sich dieser arrogante Einfall ideologisch mächtig aufgeladen. Die Deutschen fühlten sich in ihrer Niederlage betrogen, verraten, sie verlangten nach Revision des Ergebnisses. Und wie nach der Niederlage gegen Napoleon 1806 der wissenschaftliche Aufschwung der Universitäten die Erneuerung der Nation ohne gemeinsamen Staat bewirkt hatte, wollten jetzt die Professoren mit ihrem Beitrag zur Erziehung der Nation dem Staat zu der Macht verhelfen, die er brauchte, um solche Revision von Versailles herbeizuführen.

Dass viele Professoren ihr Ziel mit Hitlers Machtergreifung für erreicht ansahen, ist nur von ihrer – wiederum realpolitisch verstandenen – Politikferne her zu begreifen. Dass sie die Entfernung ihrer jüdischen Kollegen von den Universitäten hinnahmen, ist ein bisher zu wenig beachteter Hinweis darauf, dass Politikferne zu Charakterlosigkeit, zumindest zu einer Angst führt, die verantwortliches Handeln nahezu ausschließt. Indes und wiederum: So korrumpiert die meisten Lehrstuhlinhaber politisch auch waren – an ihren wissenschaftlichen Standards ließen sie nicht rütteln, ob sie Nazis waren wie der Althistoriker Helmut Berve und der Klassische Philologe Richard Harder oder emsige Mitläufer wie der Althistoriker Joseph Vogt oder ob sie stramme Nationalisten waren wie der Altgermanist Georg Baesecke, der noch 1945 in Halle eine vorzügliche Ausgabe des Hildebrandliedes herausgab und im Vorwort den Wert dieser Dichtung für die kriegerische Tüchtigkeit deutscher Soldaten hervorhob. Zehn Jahre später las der Altgermanist Friedrich Maurer, einer der Lehrer Peter Wapnewskis, diese Geschichte als Beispiel dafür, was einem Kriegsheimkehrer passieren kann.

Wer 1955 in der Bundesrepublik Deutschland Germanistik studierte, hatte zumeist dieselben Lehrer, die er 1940 hätte haben können – und er fuhr wohl nicht schlecht dabei, wenigstens was den wissenschaftlichen Rang der Ausbildung betraf. Die politischen Belehrungen von ehedem wurden ausgeblendet. Der Bruch mit den Personen, die sich politisch kompromittiert hatten, erfolgte erst in den 60er-Jahren, allerdings nicht selten unter politischen Vorzeichen. Wer von den Alten mit konservativen Ansichten auffiel, wurde heftig attakiert, unabhängig davon, wie sehr er in die Nazi-Verhältnisse verstrickt gewesen war. Wer aber beizeiten den Weg in linke Diskussionsrunden gefunden hatte und dort nützlich war, konnte Glück haben – wie der Historiker Fritz Fischer. Mit dem Ende der Nützlichkeit schlug dann freilich die Nachsicht oft in Beschuldigungsbereitschaft um, auch dort, wo es substantielle Vorwürfe nicht gab – so jetzt bei Jens und Wapnewski.