Die Bürde der Korruption

Korruption ist allgegenwärtig in Rumänien. Jeder besticht jeden Nach 15 Jahren wird die Gewaltherrschaft von Ceaușescu heute bagatellisiert

AUS BUKAREST KENO VERSECK

Der Bukarester Obor-Markt ist rumänische Realität im Kleinformat: Fliegende Händler, Schmuggler und Bauern bieten hier ihre Waren feil, tausende Menschen sind von morgens bis abends auf der Suche nach günstigen Angeboten, pausenlos dröhnen aus Lautsprechern populäre bitter-süßliche Schlager, in denen das schwere Leben besungen wird.

Ioana Rusu verkauft an einem U-Bahn-Ausgang des Marktes Regenschirme für 1,20 Euro das Stück. Wenn das Geschäft gut läuft, verdient sie zweieinhalb Euro am Tag. Die 32-jährige mit den blond gefärbten Haaren hat vier Kinder. Als der nationalkommunistische Diktator Nicolae Ceaușescu 1989 gestürzt wurde, war sie noch eine Halbwüchsige. Vielleicht gerade deshalb erscheint ihr seine Zwangsherrschaft wie eine Traumwelt. „Unter Ceaușescu war es besser“, klagt sie. „Man musste einen Arbeitsplatz haben. Und jetzt? Jetzt nehmen einen die Unternehmer nicht, weil sie einen mit dreißig schon zu alt finden.“

Auch Tudor Raiciu, der in einem Neubaublock am Obor-Markt arbeitet und erst 22 Jahre alt ist, fällt nichts Gutes zur Gegenwart ein. Gerade hat er mit zwei Freunden eine Übersetzungsfirma gegründet und ist entnervt von der Verwaltungsbürokratie. „Die Korruption blüht, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer“, sagt er. „Rumäniens Problem ist, dass es keine Mittelklasse gibt.“

Rumänien vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am morgigen Sonntag – den fünften freien Wahlen nach dem Ende der Ceaușescu-Diktatur: Das Land kommt wirtschaftlich nicht auf die Beine, viele der zweiundzwanzig Millionen Einwohner Rumäniens sehen keine Lebensperspektive. In Umfragen zu ihren drängendsten Alltagsproblemen nennen die meisten seit Jahren drei Dinge: Korruption, steigende Preise und Verarmung. Die Gesellschaft hat das Vertrauen in die Politik weitgehend verloren – in die regierende Sozialdemokratische Partei (PSD) ebenso wie in das große oppositionelle liberaldemokratische Wahlbündnis „Recht und Wahrheit“, die beiden Wahlfavoriten. Zu den Kommunalwahlen im vergangenen Juni erschienen nur knapp über 50 Prozent. Bei den morgigen Wahlen werden es wohl nur wenig mehr sein.

Dabei ist diese Wahl die vielleicht folgenschwerste der letzten fünfzehn Jahre: Vom politischen Willen und der Einsatzbereitschaft des Wahlgewinners wird es abhängen, ob das Land im Jahr 2007 der Europäischen Union beitreten kann. Das wäre mehr als nur eine Prestigefrage. Der Beitritt ist gleichbedeutend mit einem grundlegenden Modernisierungsschub, den das Land dringend braucht.

Nur allzu gerne würden die regierenden Sozialdemokraten das Land in die EU führen. Der PSD- und Regierungschef Adrian Nastase, 54, der als Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten antritt, gibt sich als eifriger Sozialpolitiker und europäischer Modernisierer. Die Sprache von westlicher Demokratie und Marktwirtschaft spricht er perfekt. Doch gerade bei den Sozialdemokraten gilt ein sprichwörtlicher rumänischer Grundsatz, den Politiker im Land meistens hinter vorgehaltener Hand zitieren: „Wir reden wie sie und machen es wie bei uns.“

Was das heißt, zeigt der jüngste große Fall von Korruption und Wirtschaftskriminalität: Letzte Woche erließ die Regierung per Dekret zwei privaten Erdölraffinerien im ostrumänischen Kreis Bacau Staatsschulden in Höhe von 400 Millionen Euro. Die beiden ehemals staatlichen Großkombinate, darunter die Raffinerie Rafo Onesti, waren 2001 zu Spottpreisen privatisiert worden. Einer der Haupteigentümer ist Corneliu Iacobov, Geschäftsmann und Mitglied der regierenden Sozialdemokratischen Partei (PSD). Zusammen mit einflussreichen Parteifreunden und Geschäftspartnern soll Iacobov die beiden Raffinerien finanziell systematisch ausgesaugt und das Geld über Dutzende Phantomfirmen beiseite geschafft haben.

Alin Teodorescu, der Kanzleiminister im Bukarester Regierungspalast, lehnt sich im Gespräch entspannt zurück. Er hat auch Grund dazu: Die Umfragewerte für die PSD sind vor allem in den ländlichen Gebieten gut, und Rumänien wird aller Voraussicht nach 2007 in die EU aufgenommen – mit oder ohne Wirtschaftskrise, mit oder ohne Korruption. Kein Wunder, dass Teodorescu bei Fragen zur schlechten Stimmung im Land abwinkt: „Die Medien veranstalten einen großen Wirbel. Das ist in Wahlkampfzeiten wohl auch normal.“ Teodorescu ist halb „Graue Eminenz“, halb Aushängeschild der Regierung. Seit März dieses Jahres leitet der 53-jährige Soziologe die Kanzlei des rumänischen Regierungschefs Adrian Nastase und zieht im Hintergrund die Fäden. Davor war er einer der bekanntesten Meinungsforscher Rumäniens. Als solcher leistet er sich zumindest manchmal noch gemäßigt unabhängige Ansichten. „Ja, es gibt noch Korruption“, gesteht Teodorescu ein. „Es gibt sie im Bereich der Lokalverwaltung, bei der Verteilung der Gelder aus dem zentralen Staatshaushalt, es gibt sie im Gesundheitssystem und in der Polizei. Der Bürger sieht noch keine größeren Veränderungen.“

Es wäre auch schlecht zu leugnen: Korruption ist allgegenwärtig in der rumänischen Gesellschaft. Bürger bestechen Beamte in Behörden, um ihre Angelegenheiten schneller erledigt zu wissen, Kranke bestechen Ärzte, um behandelt zu werden, Schüler und Studenten bestechen ihre Lehrer und Professoren, um Prüfungen zu bestehen, Verkehrssünder wie Straftäter bestechen Polizeibeamte und Richter, um der Strafe zu entgehen, Dorfbürgermeister bestechen Ministerialbeamte, um in den Genuss von staatlichen Haushaltsgeldern zu kommen.

Warum auch nicht, werden sich viele Staatsbedienstete fragen. Die Regierungsoberen gehen schließlich mit gutem Beispiel voran. So musste letzten Herbst die rumänische Europaministerin Hildegard Puwak wegen einer Betrugsaffäre um EU-Gelder zurücktreten. Mehrere Firmen, deren Inhaber ihr Mann Iosif und ihr Sohn Mihai sind, bekamen aus dem Fonds des EU-Berufsbildungsprogrammes „Leonardo da Vinci“ insgesamt 150.000 Euro. Ein Teil der Projektgelder wurde 2001 bewilligt, zu einem Zeitpunkt, zu dem Hildegard Puwak schon Ministerin für europäische Integration war. Auch in Rumänien gilt das als Interessenkonflikt.

Traian Basescu, der Bukarester Bürgermeister und Präsidentschaftskandidat des oppositionellen liberaldemokratischen Wahlbündnisses „Recht und Wahrheit“, kann sich über solche Verhältnisse gut empören. „Rumänien braucht endlich eine ehrliche Regierung“, wettert er. „Das Land muss endlich aus dem Zustand eines Landes im Übergang herauskommen.“

Basescu thront in seinem Bürgermeistersessel in einem Saal von Büro – ein kleiner Mann mit schütterem Haar. Seine donnernde Stimme hallt von den Wänden zurück. Auf Wahlkampfveranstaltungen hat er versprochen, jeden korruptionsverdächtigen Minister einer künftigen Regierung „mit eigener Hand zu exekutieren“ – eine Ankündigung, wie sie sonst nur rumänische Rechtsextreme machen. Der 54-Jährige wiegelt ab – er habe ein „vulkanisches Wesen“.

Im Wahlbündnis „Recht und Wahrheit“ haben sich die Demokratische Partei (PD) und die National-Liberale Partei (PNL) vereint. Ähnlich wie in der PSD gibt es auch in diesen beiden Parteien zahlreiche Politiker, die mit Korruptionsaffären und Wirtschaftskriminalität in Verbindung gebracht werden. Worin sieht Basescu nun eigentlich den Unterschied seines Wahlbündnisses zur regierenden PSD? „Wir“, sagt Basescu lächelnd in seiner knappen Art, „wir wollen ein Rumänien für die Rumänen. Sie wollen ein Rumänien für sich selbst.“

„Recht und Wahrheit“ hat ein viel versprechendes Regierungsprogramm ausgearbeitet. Die wichtigsten Maßnahmen: Steuersenkungen und eine einfachere Wirtschaftsgesetzgebung. So sollen Investitionen angekurbelt sowie der weit verbreiteten Schwarzarbeit und dem außerordentlich hohen Steuerbetrug der Boden entzogen werden. Von den trotz Steuersenkungen steigenden Fiskaleinnahmen will das Bündnis Sozialmaßnahmen finanzieren.

Es klingt gut, das Programm, so wie viele Ankündigungen in diesem rumänischen Wahlkampf. Der Politologe Cristian Pîrvulescu nimmt jedoch weder solche Programme noch die Doktrinen, die sich die Parteien anheften, allzu ernst. „Die Wertvorstellungen der politischen Parteien in Rumänien sind sekundär“, sagt er. „Es gibt gegenwärtig keinerlei Verbindung zwischen der rumänischen Gesellschaft und ihren Interessen einerseits und den verschiedenen politischen Parteien mit ihren oligarchischen Tendenzen.“

Cristian Tudor Popescu, einer der bekanntesten Publizisten Rumäniens und Chefredakteur von Adevarul, der größten Tageszeitung des Landes, ist dennoch nicht pessimistisch. Auf Dauer, glaubt er, werde die politische Elite um einen Mentalitätswechsel nicht herumkommen. „Egal wie groß die Hinterlassenschaft des Kommunismus noch ist bei uns, der Druck Europas ist spürbar“, sagt er. „Dass inzwischen Millionen Rumänen im Ausland arbeiten, ruft schon jetzt große Veränderungen hervor. Wenn sie zurückkommen, und sei es auch nur vom Erdbeerpflücken in Spanien, dann bringen sie alle ein Stück Kultur und Zivilisation von dort mit. Diese Leute lassen sich nicht mehr so leicht für dumm verkaufen wie noch vor zehn Jahren.“

Auf dem Bukarester Obor-Markt glaubt jedenfalls niemand mehr an Versprechen. Auch nicht Cristian Ionescu, ein 40-jähriger arbeitsloser Drucker, der an einem Stand antiquarische Bücher verkauft. Bis vor kurzem hat er noch in Israel auf dem Bau gearbeitet, von dem dort verdienten Geld hat er sich und seiner Familie eine Wohnung gekauft. Jetzt hält er sich mit seinem fliegenden Bücherstand gerade so über Wasser. „Unter dieser Regierung hat sich das Leben nicht verbessert“, sagt er. „Im Vergleich zu früher, zur Diktatur, gibt es zwar einen Fortschritt, aber man kann ein Land nicht in fünf Jahren erneuern, es wird noch zehn, zwanzig Jahre dauern, bis wir auf die Beine kommen.“

Obwohl die Regierungspartei nichts verbessert hat, will Ionescu trotzdem für sie stimmen. „Sie sind doch die Mächtigsten und Stärksten.“