Die Gefahr von Provokationen ist nicht gebannt

Immer mehr Polizisten und Soldaten stellen sich auf die Seite der Opposition. Doch Gerüchte über russische Spezialkräfte kursieren weiter

LWIW taz ■ Tanzende Polizisten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Patrouillen mit orangenfarbenen Schleifen in Lemberg. Polizisten in Transkarpatien, die Banditen festnehmen, welche diejenigen terrorisieren, die sich öffentlich hinter den Oppositionskandidaten Wiktor Juschtschenko stellen. Orangenfarbene Luftballons und Blumen an den Schilden der Spezialeinheiten vor der Präsidialverwaltung in der ukrainischen Hauptstadt.

Jede Stunde kommen neue Meldungen, dass die Polizisten des Landes die Demonstrationen der Bevölkerung unterstützen und die Waffen nicht gegen den friedlichen Protest richten wollen. Jede derartige Nachricht, die auf dem Unabhängigkeitsplatz eintrifft, wird mit Begeisterung aufgenommen. Die Bravorufe wollen einfach nicht enden, als ein Kapitän der Kiewer Polizei am Donnerstagabend eine Unterstützungserklärung verliest, die von vielen seiner Kollegen unterzeichnet wurde. Als er auf die Knie fällt und die ukrainische Nationalflagge küsst.

Noch sind es zwar nur Einzelmeldungen, die aber zunehmend auch aus den Regionen kommen. Noch sind es keine Polizeigeneräle, die sich mit den Demonstranten verbünden. Von der Polizeispitze, die mit kriminellen Methoden an dem Druck auf die Wähler und den Wahlmanipulationen direkt beteiligt war, hätte dies auch keiner erwartet. Dennoch stehen alle Zeichen auf Umbruchstimmung bei der Polizei.

Auch die Vertreter des Sicherheitsdienstes SBU, die sich in den ersten Tagen noch zurückgehalten haben, bekennen sich zur Farbe Orange: „Es gibt nicht unberechtigte Zweifel, dass die Wahlen manipuliert wurden. Unsere Pflicht ist, das ukrainische Volk zu beschützen. Von wem auch immer die Gefahren ausgingen – bleibt mit uns, bleibt mit dem Volk. Wir werden unserem Eid treu bleiben“, hieß es in einer Erklärung, die vom General Skibinezkyj, dem Berater des SBU-Vorsitzenden, verlesen wurde. Und auch jetzt ertönen wieder laute Bravorufe der Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz.

Selbst in der ukrainischen Armee herrscht Aufbruchstimmung. Eine kleine Einheit des Ministeriums für Katastrophenschutz im westukrainischen Drohobytsch ist bereits zur Opposition übergelaufen. Mit einem Appell an seine Kollegen hat sich in der Nacht auf Freitag auch der vor kurzem abgesetzte Verteidigungsminister Jewhen Martschuk zu Wort gemeldet. Einer der einflussreichsten ukrainischen Politiker, der früher auch an der Spitze des Sicherheitsdienstes gestanden und danach das Amt des Premierministers bekleidet hatte, rief zur Besonnenheit auf. „Jeder weiß, dass es zu massiven Fälschungen gekommen ist“, sagte Martschuk im „5. Kanal“, dem Oppositionssender, der live vom Unabhängigkeitsplatz berichtet. Es tue ihm Leid, zu sehen, wie der amtierende Präsident Kutschma sich vom Amt verabschiede.

Die meisten Beobachter gehen nicht mehr davon aus, dass die ukrainische Polizei und die Armee mit Gewalt gegen die immer größer werdenden friedlichen Protestmärsche vorgehen wird. Doch die Spannung bleibt.

Das Regime scheint seinem Ende nahe zu sein, aber die Gefahr der Provokationen ist noch nicht gebannt. In jedem Augenblick kann die Gewalt eskalieren, mehrere Tausend Anhänger des angeblichen Wahlsiegers Janukowitsch sind auf den Straßen von Kiew unterwegs, es gibt auch durchaus aggressive Gruppen. Auch die Gerüchte über die „Speznas“ wollen nicht abreißen: Angeblich sollen sich rund 1.000 russische Spezialeinheiten in der Ukraine befinden und in der Nähe der Präsidialverwaltung stationiert worden sein. Eine endgültige Bestätigung dafür gibt es jedoch nicht. JURI DURKOT