berliner szenen Preis für Hilsenrath

Der Fährmann

Die Akademie der Künste ist überfüllt, als Lion-Feuchtwanger-Preisträger Edgar Hilsenrath im Rollstuhl zur ersten Sitzreihe geschoben wird. Applaus.

Adolf Muschg sagt Nettes zur Begrüßung, blamiert sich aber mit der Behauptung, Hilsenraths berühmter Roman „Der Nazi & der Friseur“ sei in Deutschland 1977 endlich und erstmals bei Piper verlegt worden. Der Kölner Verleger Helmut Braun, dem diese Ehre wirklich gebührt, sitzt im Publikum und nimmt den Irrtum mit einem Lächeln hin.

Der Laudator Robert Schindel erinnert die Verleihung des Alfred-Döblin-Preises an Hilsenrath, 1989. Er nennt den Shoah-Überlebenden Hilsenrath einen „Fährmann, der über den Styx zu uns zurückgerudert ist“, einen „Übersetzer“, der die Stimmen der Ermordeten in seinen Büchern lebendig werden lasse, ohne sie zu verklären.

Der Redner erzählt, dass seine Verwandten in einem Wald bei Riga von den Nazis ermordet wurden, und fragt sich plötzlich erregt: „Wie hätte ich mich als Opfer verhalten? Hätte auch ich das mit Gewehrkolben aus den Schädeln der Juden herausgeschlagene Hirn gierig vom Boden aufgeleckt, wahnsinnig vor Hunger, wie es in Birkenau wirklich geschah?“

Hilsenrath ist die Ruhe selbst. „Danke“ sagt er nicht. Er liest am Ende nur zwei seiner satirischen Texte vor, zuerst die skurrile Geburtsszene aus „Fuck America“. Der Saal biegt sich vor Lachen. Dann schweigt der Preisträger plötzlich wieder und sitzt regungslos im Rollstuhl, ganz allein auf der Bühne.

Eine Minute lang.

Stille.

„Lassen Sie sich nicht noch etwas entlocken?“, fragt Muschg verdutzt.

„Nee“, sagt Hilsenrath.

JAN SÜSELBECK