Kann Tempo Sünde sein?

Die Verurteilung des Arztes von Juventus Turin wegen Verabreichung von Epo-Doping wirft ein schlechtes Licht nicht nur auf Italiens Klubs, sondern auf den Fußball insgesamt

VON MATTI LIESKE

Als Alessandro del Piero 1993 im Dress von Juventus Turin auftauchte, besaß der damals 19-Jährige alle Anlagen, die Nachfolge des genialen Roberto Baggio als spielerische Leitfigur im italienischen Fußball anzutreten. Doch dann mutierte der ballgewandte und flinke Stürmer zu einer Art muskelbepacktem Gnom, spielte zwar auf hohem Niveau – wenn er nicht verletzt war –, erreichte jedoch weder im Verein noch in der Squadra Azzurra jene Gipfel der Fußballkunst, die ihm eigentlich vorbestimmt schienen. Spätestens nach der Verurteilung des Juve-Mannschaftsarztes Riccardo Agricola vergangene Woche wegen Sportbetrugs durch Epo-Doping und wegen Medikamentenmissbrauchs zu 22 Monaten Gefängnis lässt sich sagen, dass Del Pieros Karriere durch extensive Medikation beeinträchtigt wurde.

Im Zeitraum von 1994 bis 1998, als Juventus dreimal Meister war, dreimal im Champions-League-Finale stand und dieses einmal gewann, habe Agricola, so das Gericht, den Spielern nicht nur verbotene Substanzen wie das Blutdopingmittel Epo, sondern auch in rauen Mengen Kreatin verabreicht, das Muskelzuwachs, aber auch Muskelverletzungen fördert. Der Franzose Zinedine Zidane sagte im Prozess aus, er sei wegen der Kreatin-Kuren, die seinen Körper schlauchten, froh gewesen, als er Turin endlich Richtung Real Madrid verlassen konnte.

Alessandro del Piero wurde wegen seiner ominösen Muskelpakete neben seinem Juve-Kollegen Gianluca Vialli namentlich von Trainer Zdenek Zeman genannt, als der die Sache 1998 ins Rollen brachte. „Wir müssen die Pharmazie aus dem Fußball jagen“, hatte der Tscheche damals gesagt, sonst gehe es im Fußball bald zu wie bei der Tour de France. Doch es war längst zu spät. Da Zeman Juventus genannt hatte, ermittelte der Staatsanwalt Raffaelle Guariniello gegen den Turiner Klub, es hätten wohl aber auch die meisten anderen in Italien sein können.

Vergleicht man Fußballspiele von 1990 mit solchen bei der WM 1998 oder auch der EM 2002, stellt man fest, dass sich das Spiel extrem beschleunigt hat. Dies wird gern als moderner Fußball gelobt, die Kehrseite der Medaille aber eher vernachlässigt. Die Spieler laufen nicht unbedingt schneller, aber erheblich mehr als früher. Waren es einst um die 5 Kilometer, die fleißige Profis pro Spiel zurücklegten, sind es jetzt oft 10 bis 12. Das erfordert Ausdauer, und diese florierte in den 90er-Jahren, dem goldenen Zeitalter des Epo-Dopings – was natürlich nicht heißt, das jeder laufstarke Spieler gedopt sein muss. In fast allen Ausdauersportarten gingen die Leistungen jedoch nach oben, Vorreiter war Italien, wo die Epo-Forschungen der Sportmediziner Francesco Conconi und Michele Ferrari Pioniercharakter hatten. Kein Zufall, dass kurz nachdem der Radprofi Claudio Chiappucci bei der Tour 1992 in zuvor nie gesehener Manier hinauf nach Sestriere gedüst war, das Wundermittel Epo auch beim Juve-Doktor Agricola ankam.

Und während im Radsport oder Skilanglauf bald wenigstens Hämatokritwerte überprüft wurden, um dem in Dopingtests nicht nachweisbaren Epo auf die Schliche zu kommen, blieb der Fußball von solchen Dingen unbeleckt. Noch im Juni 2002 behauptete der Fifa-Chefmediziner bei der WM, Jiri Dvorak: „Wir haben keine Hinweise, dass Epo im Fußball eine Rolle spielt.“ Erwischt wurden höchstens die Anabolika-Doper, meist mit Nandrolon, meist die Arbeitstiere ihrer Teams: Edgar Davids, Pep Guardiola, Jaap Stam, Frank de Boer, Fernando Couto. Da die Fifa jedoch die Richtlinien des IOC und der Welt-Antidoping-Agentur Wada nicht anerkannte, kamen sie meist recht glimpflich davon.

Immerhin wurde bei der WM 2002 und auch bei der EM 2004 auf Epo getestet, nachdem die Analyse endlich hieb- und stichfest war. Vielen Ligen ist der Epo-Test jedoch auch heute noch zu teuer. In Englands Profifußball wurden letzte Saison zwar rund 1.250 Tests durchgeführt, kein einziger jedoch auf Epo. Weniger geizig zeigt sich der deutsche Fußball. Hier wird laut Auskunft des DFB regelmäßig auf Epo kontrolliert, seit der Test für Urinproben zur Verfügung steht.

Nachdem Arsenal-Coach Arsène Wenger kürzlich darauf hingewiesen hatte, dass viele ausländische Spieler, die neu zu seinem Klub kämen, merkwürdige Blutwerte aufwiesen, die auf Epo-Missbrauch deuteten, kündigte auch der englische Verband für diese Saison Epo-Tests an. „Im Spitzensport ist Doping überall ein Problem“, meinte Wenger, „ich würde nicht sagen, dass es im Fußball ein großes Problem ist, aber ich würde auch nicht sagen, dass es nicht existiert.“ Bündiger drückte es der griechische Enthüllungsjournalist Filippos Syrigos vor einigen Tagen gegenüber der Berliner Zeitung aus: „Wenn ein Land in der Lage ist, einen Kenteris zu präsentieren und die Welt zu narren, ist es logisch, dass dieses Land auch die Fußball-Europameisterschaft gewinnen kann.“

Im Mai hat die Fifa endlich den Anti-Doping-Code der Wada unterzeichnet. Es besteht also Hoffnung, dass auch in diesem Sport wirksame, länderübergreifende Epo-Kontrollen in Wettbewerb und Training auf den Weg gebracht werden – selbst wenn der Fußball dann wieder langsamer wird.