Wir füttern die Welt

„Do They Know It’s Christmas?“ – aber ja doch, wissen wir. Und damit es auch die hungernden Sudanesen erfahren, werden wir zu Weihnachten alle brav das „Live Aid“-Konzert von 1985 als DVD-Box kaufen – und moralisches Elend mit musikalischem Elend lindern

VON ARNO FRANK

Das gute Gewissen liegt in der Hand wie ein Backstein, komisch. Dabei ist es auf den ersten Blick nur eine aufklappbare Box mit vier schnöden DVDs und einem bunt bebilderten Büchlein. Vielleicht ist es ja die Erinnerung, die hier ideell ins Gewicht fällt: „Feed The World!“.

Ach, im Booklet steht’s ja, mit pathetischem Optimismus: „Remember the day you wanted to help. Remember the dying who were allowed to live. Remember the day you die, there is someone alive in Africa ’cos one day you watched a pop concert.“ So einfach ist die Welt zu retten, kaum zu glauben. Wenn sich nun noch rasch der Weihrauch verflüchtigt, wird der Blick frei auf den Weltenfütterer, den Urheber des Spektakels, den abgetakelten Popmusiker Bob Geldof.

Als Sänger der Boomtown Rats hatte er 1979 mit „I Don’t Like Mondays“ seinen einzigen Hit, als Hauptdarsteller in Pink Floyds „The Wall“ 1982 seinen einzigen großen Auftritt als Schauspieler. Das Jahr 1984 verbrachte der Ire weitgehend vor dem Fernseher, wurde fett und fetter – als ihn eine BBC-Dokumentation über Äthiopien kalt erwischte, wo die Leute immer dünner und dünner wurden, bis sie schließlich starben.

In Anlehnung an George Harrisons legendäres „Concert For Bangladesh“ beschloss Geldof, menschliches Elend durch musikalisches Elend zu lindern. Mit seinem Freund Midge Ure komponierte er die Mutter aller Benefiz-Singles: „Do They Know It’s Christmas?“. Das Lied war künstlerisch nicht wirklich zwingend, wurde aber durch die Beteiligung von U2, Duran Duran, Culture Club, Wham, Bananarama, Spandau Ballet und viel gutem Willen zu einem sensationellen Erfolg – wobei im allgemeinen Jubel kaum auffiel, dass die Amerikaner bei der „Band Aid“ nicht mitspielen und mit „USA For Africa“ bald ihr eigenes Benefiz-Süppchen kochen durften. Aber da waren die Dinge längst schon aus dem Ruder gelaufen.

Beseelt von seiner Mission machte sich „Saint Bob“, wie ihn seine Landsleute bald spöttisch nannten, umgehend an die Verwirklichung seiner Vision von der „globalen Jukebox“. Es sollte das größte Konzertspektakel aller Zeiten werden, ach was, besser gleich zwei Konzertspektakel, parallel in Philadelphia und London, zeitgleich auf zwei Kontinenten – und zwar mit allen Künstlern, die im Musikgeschäft seinerzeit Rang und Namen (und ein Herz im Leibe) hatten.

Geldof inszenierte ein Ereignis, dessen Gravitation sich niemand entziehen konnte. Wer das kurioserweise völlig afrikanerfreie „Live Aid“ des kulturellen Kolonialismus bezichtigte oder sich darüber wunderte, dass Geldof den Hunger in Afrika als Plage ohne Ursache ausgab – der bekam den Furor des Heiligen Bob zu spüren. Als etwa der Vorverkauf für die US-Show stockte, zwang Geldof mit seiner moralischen Massenvernichtungswaffe sogar die aufgelösten Led Zeppelin aus der Gruft – Stunden später waren alle 90.000 Tickets für das J. F. K. Stadium in Philadelphia ausverkauft. An diesem 13. Juli 1985 jedenfalls hockte fast ein Drittel der Menschheit wie hypnotisiert vor 95 Prozent aller weltweit verfügbaren Fernseher – ein medialer Knüller wie die Mondlandung wirkte dagegen wie ein müder Sonntagsspaziergang. Aber da waren die Achtzigerjahre noch in vollem Galopp, gab es noch eine Concorde, um Phil Collins’ Auftritte auf beiden Kontinenten zu ermöglichen. Dem Initiator war die perfekte Illusion geglückt, den hungrigen Hedonismus dieses Jahrzehnts in eine zähneknirschende, weil verlogene Selbstlosigkeit zu wenden. Fesselnd an den satten 600 Minuten Laufzeit der DVD-Konserve ist heute weder der Mythos noch die Musik, sondern die Sollbruchstelle zwischen Egoismus und Altruismus, das falsche Lächeln auf der richtigen Bühne.

140 Millionen Euro hat der „Band Aid Trust“ seitdem erwirtschaftet, die Erlöse der DVD-Box und des am vergangenen Montag veröffentlichten Remakes von „Do They Know It’s Christmas?“ gehen diesmal an Hilfsprojekte in der sudanesischen Krisenregion Darfur.

Das gute Gewissen, es liegt in der Hand wie ein Backstein für 44,99 Euro, unverbindliche Preisempfehlung, guter Zweck inklusive. Und das wirklich Komische ist, dass man mit diesem Backstein noch immer gerne auf Bob Geldof einprügeln würde.