Der Streichzeuger

Sven Åke Johansson schwört auf den Sound von Pappe, Schaumstoff und Traktoren. Seit den Zeiten des Freejazz experimentiert der schwedische Musiker mit der Auflösung von Strukturen. Ein Porträt

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Nein, nein, beteuert Sven-Åke Johansson. Er steht in seinem Atelier und zieht einen Kontrabassbogen bedächtig über einen Pappkarton. Einen Computer verwende er nicht. Fieps- und Rauschklänge erzeuge er auf seinen Kartons, ohne elektronischen Zusatz. Und tatsächlich beginnt der Karton zum Beweis unter dem Bogenhaar zu schwingen, die Schachtel ächzt und knarrt mit Nachdruck – quod erat demonstrandum.

Sven-Åke Johansson ist eine lebende Legende. Mit seiner Beteiligung an Platten wie Peter Brötzmanns „Machine Gun“ wurde er in den Sechzigerjahren zur Ikone des europäischen Freejazz. Der schmächtige Schlagzeuger prägte einen Stil, der bis heute nachhallt: expressiv und filigran, explosiv und ohne erkennbares Metrum.

Musik sucht das Tonlose

Heute, wo CD-Veröffentlichungen die letzten Lücken in seiner bewegten Laufbahn schließen, hat Johansson das Schlagzeug in eine entlegenere Ecke des Ateliers gerückt, auch wenn er versichert, dass er täglich darauf spielt. Das Zentrum des weitläufigen Raums in einem Kreuzberger Hinterhof säumen Pappkartons in allen Größen. „Die neue Musik sucht ja das Tonlose“, erklärt Johansson, „das Geräusch. Instrumente wie eine Geige oder ein Kontrabass eignen sich da schlecht. Eine Geige muss man ja geradezu gewaltsam verbiegen, indem man zum Beispiel hinter dem Steg spielt. Ein Karton hingegen ist für unmelodiöse Musik viel besser geeignet.“

Der Karton gehört seit Jahren zu den Lieblingsinstrumenten des mittlerweile 61-jährigen Schlagzeugers. Mit verfrorener Miene steht er bei seinen Auftritten am Bühnenrand, um das Knarzen der Schachteln lustvoll und in all seinen Farben auszukosten. Eine Partitur für zweiundzwanzig Kartons wartet derzeit noch auf ihre Uraufführung, es ist ein monumentales Werk von fünfzig Minuten Dauer für ein Papporchester sinfonischen Ausmaßes.

Dabei gehört der Karton nicht einmal zu den abwegigsten Alltäglichkeiten, auf deren akustische Potenz Johansson es absieht. Seinen Werkkatalog schmücken Kuriosa wie das klangseidene Hörspiel „Trilogie für drei Windgeneratoren“, die wüste Performance „Konzert für 15 Handfeuerlöscher“ und das ein wenig einfältigere „Konzert für 12 Traktoren“.

Die meisten seiner Klanggesten habe er allerdings vom Schlagzeug her entwickelt, gibt Johansson zu bedenken. Zunächst unter behutsamer Abwandlung des Materials, wie etwa bei dem Becken aus Schaumstoff: „Man sieht die Scheibe und hat den Beckenklang schon eigentlich im Kopf, aber man hört nichts. Und das ist manchmal die lautere Musik.“ Das Schlagzeug steht nach wie vor im Zentrum seiner Musik, auch wenn sich das Interesse für Johansson weiterentwickelt hat, vom perkussiven Schlag zu einem flächigen, reduzierten Klang, sodass die Ergebnisse nur noch wenig mit der wendigen Körperlichkeit und der fiebrigen Eleganz seines früheren Spiels gemein haben. Er selbst nennt den Prozess „Vom Schlagzeug zum Streichzeug“.

Die musikalische Biografie von Johansson, der 1943 im schwedischen Mariestad zur Welt kam, gleicht einem Fächer, dessen Streben im Freejazz der Sechzigerjahre zusammenlaufen. Seit dieser Zeit hat er immer wieder das von ihm selbst geschaffene Idiom infrage gestellt, hat dessen Autorität zersetzt und – da er nun mal Schlagzeuger ist – eben auch zerschlagen. „Im Freejazz waren Harmonien, Melodien und Taktmaß verboten. Sie wurden tabuisiert, um neue Wege einschlagen und auf neue Begegnungsmöglichkeiten stoßen zu können. Wer abstrakt malt, malt eben erst einmal nicht figurativ, und man wird solche Aspekte dann vielleicht erst Jahre später wieder zulassen. Das ist das Erneuerungsprinzip der Kunst.“

Den Prozess der kritischen Restauration hat der Musiker in mustergültiger Konsequenz vollzogen. Ein besonders schönes Beispiel der Wiederaneignung ist jetzt auf dem Kölner Label Grob erschienen: „Sven-Åke Johansson mit dem NMUI im SO 36 79“. Vor fünfundzwanzig Jahren konzipierte Johansson das „Nordeuropäische Melodie- und Improvisationsorchester“, ein achtköpfiges Ensemble mit Saxofonen, Posaunen, Gitarren, Akkordeons und Streichinstrumenten. Der Freejazz ist hier eine stilistische Folie, vor der volkstümliche Zitate, wie die gemütlichen Schunkelmärsche von Paul Lincke, aber keineswegs fremd oder gar böse wirken. Ein Evergreen wie „Bis früh um fünfe, wir sind immer noch Berliner“ bricht wie das Rudiment einer älteren musikgeologischen Schicht unter den freien Improvisationen hervor.

Volkstümliches für Punks

In anderen Passagen der CD entwickelt die Musik einen strengeren, reglementierteren und unnachgiebigeren Zug. Ergänzt wird das stürmische Oktett von vehementen Zwischenrufen pöbelnder Punks. Denn mitgeschnitten wurde das denkwürdige Konzert im SO 36, wo das junge Publikum sich mit der Musik zwar „auseinander setzte“, aber eben auch „einen gewissen Widerstand“ spüren ließ, wie Johansson sich erinnert. Schwierige und brüchige Stellen werden deshalb vom präpotenten Charme der Renitenz begleitet: Der Ü-Wagen des Rias, der sich um den Mitschnitt des Konzertes kümmern sollte, wurde als Symbol staatlicher Autorität mehrfach attackiert, sodass am Ende frei liegende Kabel Bürgersteig und Bühne unter Starkstrom setzten.

Im klassischen Freejazz erkennt Johansson heute in erster Linie einen prägnanten Stil, den er nur noch historisierend bemüht, wie in den „Six Little Pieces for Quintet“ (1999), in denen er das alte Idiom noch einmal aufleben lässt – „auf historischen Instrumenten“, wie er süffisant anmerkt. Mit reger Aufmerksamkeit hat er an der aktuellen freien improvisierten Musik Teil, mit deren jüngeren Vertretern er regelmäßig konzertiert, beispielhaft auf der kunstvoll verfrickelten CD „Barcelona Series“ von 1999, die mit dem Trompeter Axel Dörner und der Inside-Pianistin Andrea Neumann eingespielt wurde. Allerdings mahnt Johansson an, dass Reduktion und weihevolle Stille, ein Stil, der heute vor allem in Berlin mit Hingabe gepflegt wird, Gefahr laufen, irgendwann als Manierismus zu verknöchern. Da werde Ausdruck zu einem Tabu, das zu brechen natürlich als nächste Herausforderung gilt.