Wenn die Tür knallt

Notfallsummer und Sicherheitsdienst: In den Sozialämtern wappnen sich die Beamten gegen ihre immer unzufriedeneren Kunden. Ein Ortstermin

aus Berlin NADJA KLINGER

Vorm Sozialamt an der Müllerstraße sitzt ein fieser Hund. Er hat gelbbraune Zähne, und seine Augen sind noch kälter als der Dezembermorgen. Er sitzt wie zum Sprung. An seinem Hals baumelt das Gesetz. Das Gesetz ist ein Maulkorb. Der Maulkorb schützt die Bürger. Aber er schützt sie nur dann, wenn das Tier ihn anstatt am Hals über der Schnauze trägt. Mit Gesetzen ist das so eine Sache.

Die Menschen treiben

Ein Polizist stellt sich breitbeinig vor den Hund und wartet. Dann dreht er sich um und betritt das Sozialamt. Die Eingangshalle ist grün gekachelt wie eine Badeanstalt. Menschen treiben umher wie in einem großen Becken. „Gehört jemandem der Hund da draußen?“, ruft der Gesetzeshüter. Die Menschen treiben zu den Zetteln hin, die überall an den Kacheln kleben. Sie lesen und treiben dann weiter. „Also niemandem“, antwortet der Polizist sich selbst.

Mit Gesetzen ist das so eine Sache. Es gibt sie Schwarz auf Weiß, aber es gibt sie nicht wirklich. Sie erstarren, sobald sie beschlossen sind. Fortan geht die Zeit an ihnen vorüber. Sie existieren nicht an sich, sondern unter Umständen. Das Bundessozialhilfegesetz (BSGH) beispielsweise gab es schon, da ist die Mauer gefallen. Dann ist das Land größer geworden. Dann ist ein Kanzler gegangen und ein neuer gekommen. Es gab immer weniger Arbeitsplätze und es gab immer weniger Geld. Das Land hat sich total übernommen. Das BSGH hat das alles nicht wirklich überlebt. Es ist ein Gesetz. Es ist einfach immer noch da.

Auf den Zetteln an den Kacheln im Sozialamt Wedding steht, dass täglich nur noch eine begrenzte Anzahl Wartenummern vergeben wird. Nummernausgabe ist nicht zu jeder Zeit. Obdachlose, Haftentlassene und Spätaussiedler sollen sich im ersten Stock melden. Allein erziehende Mütter sollen ganz nach oben kommen. Rauchen ist verboten. Wegen Softwareumstellung, steht auf den Zetteln geschrieben, kommt es im Bereich „Hilfe zum Lebensunterhalt“ zu längeren Bearbeitungszeiten.

Alle Menschen, die eine Weile durch die Eingangshalle getrieben sind, geraten schließlich in einen Sog. Der Sog zieht sie die Treppen hoch und schwemmt sie in die verschiedenen Etagen. Dort bedecken die Menschen die langen, dunklen Gänge wie Algen. Sie lungern auf Stühlen, an Wänden, auf dem Boden und den Fensterbrettern. Sie reden miteinander, bis sie nichts mehr zu bereden haben. Dann schweigen sie. Die Zeit vergeht.

Ein ansteckendes Gefühl

Stundenlang atmen die Sozialhilfeempfänger im Wedding das ein, was andere Sozialhilfeempfänger um sie herum ausdünsten. Wie eine ansteckende Krankheit verbreitet sich das Gefühl, zu einer besonderen Sorte Mensch zu gehören. Zu denen, die nichts anderes können als warten. Zu denen, denen das simple Prinzip mit den Nummern partout nicht mehr einleuchtet. Wartende Sozialhilfeempfänger sind Menschen, die in einer kleinen Arena aus Zigarettenkippen sitzen und mit ihrer Ungeduld kämpfen. Sie nehmen ihre schreienden Babys aus dem Wagen, können sie aber nicht beruhigen, weil sie sich selbst nicht zu helfen wissen.

Irgendwann empfindet ein wartender Sozialhilfeempfänger es als wohltuend, wenn auf dem Gang mit Karacho eine Tür zugeworfen wird. Jetzt kann er es auch fühlen: Er wird nicht mehr lange darauf warten, in das Zimmer der Sachbearbeiterin vorzudringen. Er wird nicht mehr lange die Tür anstarren, die keine Klinke hat, damit einer wie er sie nicht öffnen kann. Denn er ist mehr noch als ein besonderer Mensch: Er ist eine Rakete. Und gleich wird er hochgehen.

Gewalttätige Übergriffe in deutschen Sozialämtern nehmen zu. Manche Sachbearbeiterinnen verschanzen sich hinter ihren Türen. Andere bauen mannshohe Tresen zwischen sich und den Menschen, denen sie helfen sollen. Einige lassen Videokameras laufen, wenn der Bürger kommt, um das Bundessozialhilfegesetz für sich in Anspruch zu nehmen. Alle haben gern eine Kollegin in ihrer Nähe. Denn der Bürger ist in der Regel ein frustrierter Bürger. Per Knopfdruck wird Alarm ausgelöst, sobald er pampig wird.

Das alles ist wahr. Aber nicht ganz. „Die ganze Wahrheit besteht aus vielen Einzelheiten“, sagt Manfred Weißbach. Er ist Leiter des Fachbereiches Materielle Hilfe für die Berliner Stadtteile Wedding, Mitte und Tiergarten. Während an den Büros in der Müllerstraße keine Klinken sind, arbeiten die Kollegen im Tiergarten zuweilen bei weit offen stehenden Türen. Auch die Sachbearbeiterinnen in Mitte schließen sich nicht ein. Die drei Ämter von Manfred Weißbach gehören zu ein und demselben Stadtbezirk. „Man darf die Einzelheiten, aus denen die ganze Wahrheit besteht, nicht jede für sich betrachten“, sagt er.

Jedes Mal, wenn Weißbach durch den Altbau an der Müllerstraße in sein Büro geht, denkt er, dass man auf den tristen Gängen schleunigst etwas mit Farbe machen muss. Auch müsste man ein bisschen umräumen. Luft machen und Licht. Jedes Mal würde er die Idee am liebsten sofort umsetzen. Aber dann fällt ihm wieder ein, dass es draußen in der Realität auch nicht heller wird, wenn im Sozialamt mehr Licht ist. Und Manfred Weißbach fragt sich plötzlich, was seine gute Idee wert ist. Auch das gehört zur ganzen Wahrheit: Es sind lediglich die Einzelheiten, die er beeinflussen kann.

Eine schöne Arbeit haben seine Sachbearbeiterinnen nicht. Jede betreut etwa 200 Akten, das ist über ein Drittel mehr als die bundesweite Vorgabe für diesen Aufgabenbereich. Der Krankenstand unter den Kolleginnen ist hoch. Kürzlich hat Manfred Weißbach für das Sozialamt Wedding acht feste Sachbearbeiter-Stellen zu vergeben gehabt. Er hat 258 Briefe abgeschickt, um Beamte aus dem Überhang anderer Ämter abzuwerben. Lediglich 31 kamen zum Informationsgespräch. 23 von denen sind dann von ihren Dienststellen doch nicht weggelassen worden. Die Ämter schützen ihre Mitarbeiter vor den Sozialamtsstellen, sagt man im Wedding. Die Arbeit ist nicht gerade begehrt. Weißbach fand mit Ach und Krach vier neue Mitarbeiterinnen.

Immer mehr Akten

Es ist auch nicht schön, Sozialhilfeempfänger zu sein. Wer einen Antrag stellt, muss seine Lebensumstände total offenbaren. Während er das tut, stellen andere auch ihre Anträge. Es werden immer mehr Akten. Bald müssen sie unter den gleichbleibend vielen Sachbearbeiterinnen neu aufgeteilt werden. Beim nächsten Sozialamtsbesuch muss sich der Antragsteller in einem anderen Büro erneut offenbaren. Es ist wie Betteln. Es ist noch unangenehmer, als auf der Straße nach dem Weg zum Sozialamt zu fragen.

Das Bundessozialhilfegesetz hat das alles nicht gewollt. Im Gegenteil. Es will denen helfen, die unterm Existenzminimum leben. Denen, die sich selbst nicht mehr helfen können und denen auch niemand hilft. Wenn du von Gott und der Welt verlassen bist, dann springt der Staat ein, sagt das BSGH. Es ist ein gutes Gesetz, eines der schönsten. Aber es hat schon zu viele Ereignisse überlebt. Es ist unrealistisch wie die Maulkorbpflicht. Es ist total auf den Hund gekommen.

Das Gesetz verspricht mehr als Geld. „Meine Aufgabe ist, fürs Leben zu beraten und Hilfe zur Selbsthilfe zu geben“, sagt Ramona Schramm, Gruppenleiterin im Sozialamt an der Karl-Marx-Allee in Mitte. Sie erfüllt diese Aufgabe, indem sie die Leute zur Schuldnerberatung schickt oder aufs Gericht, damit ein Pfändungsbeschluss aufgehoben wird. Sie kennt Wege, die im Notfall gegangen werden können.

Ramona Schramm hat auch zu kontrollieren, dass Sozialhilfeempfänger sich um einen Geldverdienst kümmern. Diese Aufgabe erledigt sie ebenfalls gewissenhaft. Sie legt Apfelsinenschalen auf die Heizung ins Büro, so dass es nach Weihnachten riecht. Dann redet sie über Arbeit, obwohl sie keinen Weg kennt, an dessen Ende es Arbeit gibt.

„Vor Jahren gab es noch Leute, die kamen nur mal kurz zwischen zwei Jobs zu mir“, sagt Frau Schramm. Vor Jahren ist Jahre her. Wer heute ins Sozialamt kommt, der bleibt. Und hat jemand wirklich mal das Glück, einen Job zu finden, dann zehrt nicht nur die Sachbearbeiterin davon, die den Fall auf dem Tisch hatte. Alle haben sie es nötig, sich an Glücksfällen zu laben.

Geld, immer nur Geld

In Mitte sitzen die Wartenden nicht auf dem Flur, sondern in einem abgetrennten Bereich mit viel Fenstern und Licht. Sie sitzen ein bisschen wie auf dem Flughafen. Das macht die Reise aber nicht interessanter. „Die Sozialhilfe erfüllt ihren Sinn nicht mehr“, sagt Ramona Schramm. Die Leute wollen einen Fernseher von ihr. Sie schickt den Prüfdienst. Der findet ein altes Gerät vor, das zwar vom Nachbarn geborgt ist, aber funktioniert. Laut Gesetz gibt Ramona Schramm in diesem Fall kein Geld und hat dafür Zoff mit dem Sozialhilfeempfänger. Das ist unangenehm. Andere Fälle gehen harmonisch über die Bühne. Das Sozialamt gibt Geld, und der Bürger geht zufrieden nach Hause. Jedoch sind diese Fälle die eigentlich traurigen, denn Ramona Schramm bleibt ohnmächtig zurück. Sie kann kaum anderes tun, als Geld zu geben. Und zunehmend merkt sie, dass auch niemand etwas anderes von ihr will. Schlimmer noch: Man meint, dass sie zum Geben verpflichtet ist. „Wir sind zur Zahlstelle verkommen“, sagt Ramona Schramm.

Als Gruppenleiterin bearbeitet sie vor allem die Beschwerden. Auch sie hat einen speziellen Knopf am Telefon. Wenn sie den drückt, kommen alle Kollegen aus den umliegenden Zimmern. Es kommt auch der Wachschutz: ein Mann, der viele Aufgaben im Hause hat. Er muss die Bezirkskasse im fünften Stock im Auge behalten. Er ist fürs Sozialamt im vierten zuständig. Und er hat sich um die Asylstelle im dritten zu kümmern. Alles gleichzeitig. Und zudem ist er auch noch schmächtig und nicht gerade hoch gewachsen. Bewaffnet? Ramona Schramm lacht. Als sie Dienstschluss hat, steht der Wachmann bei den Pförtnerinnern und schwatzt. Dort hat er, als Frau Schramm früh zur Arbeit kam, auch schon gestanden. Ein Mann, der total realistisch ist.