Die Musik ist ertrunken

Eine blasse Flöte, ein haltloser Bogen: Die Konzertreihe „Winter Music“, die zum vierten Mal an der Akademie der Künste stattfand, blieb mit nur zwei Uraufführungen und vielen alten Stücken hinter dem Innovationspotenzial zurück

Man stelle sich vor, man glitte mit einem Boot über ein Meer, in dem man die Musik ertränkt hätte. Es wäre still. Nur hier und dort ragten die Spitzen eines gewaltigen Klangmassivs aus dem Wasser wie Spitzen eines Eisbergs. Man wäre dann in der Erinnerung an Musik gefangen und müsste sich mit den flüchtigen Gipfeln einer verschollenen Tonkunst begnügen.

So etwa ließe sich der Eindruck beschreiben, den ein kurzes Ensemblestück von Vadim Karassikov aus dem Jahre 1999 hinterlässt. Ein blasser Flötenklang gleitet über die Stille hinweg, ein Bogen wischt haltlos über die Saiten, um die langen Pausen zu konturieren. Karassikovs Stück, das an diesem Wochenende im Rahmen der „Winter Music“ zu hören war, markiert einen möglichen Endpunkt des Wegs, den die zeitgenössische Musik seit 1945 zurückgelegt hat.

Die Konzertreihe „Winter Music“, die zum vierten Mal an der Akademie der Künste stattfand, hatte auf ein schlagkräftiges Motto verzichtet und stattdessen zwei Ikonen der neuen Musik ins Rampenlicht gesetzt: den italienischen Komponisten Luciano Berio, der im Mai gestorben ist und der Musik stets als eine emphatisch zu gestaltende Größe verstanden hatte. Und den amerikanischen Komponisten Earl Brown, der der Musik einige ihrer Selbstverständlichkeiten geraubt hatte. Es oblag also dem Hörer, den roten Faden aus dem Programm herauszuspinnen und Musikgeschichte als zerstörende Befreiung oder befreiende Zerstörung zu begreifen.

Ende der Fünfzigerjahre galt es zunächst, sich selbst auferlegter Systemzwänge zu entledigen und die Partituren über den blanken Sinn hinaus auch wieder mit Sinnlichkeit anzureichern. Berio entdeckte in diesen Jahren die Elektronik. 1959 schrieb er „Différences“ für Ensemble und Tonband, bei dem der sperrige Ensemblesatz allmählich vor den beschleunigten Klangsalven des Tonbands erlischt. Vor diesem Klanghorizont wird deutlich, dass Berio, der häufig als ein talentierter Mitläufer gehandelt wurde, durchaus über revisionistisch-innovatives Potenzial verfügte.

Earl Brown verfährt da radikaler. Der New Yorker Komponist, der zur Gruppe um John Cage gehörte, stellt die Arbeitsteilung der westlichen Kunstmusik, die zwischen Komponist und Interpret, grundsätzlich in Frage. Seine Werkgruppe „Folio“ enthält einige Skizzen und Miniaturen, die Komposition zu nennen man zunächst zögert. Das radikalste Stück ist das Blatt „December 1952“, das nur noch aus einigen Balken und Strichen besteht. Der Interpret möge aus dem Blatt herauslesen, was er wolle, alles sei richtig, hatte Brown erklärt. Bezeichnenderweise sind diese Stücke über Jahrzehnte hinweg kaum aufgeführt worden. Man hielt sie für ein Kuriosum der Musikgeschichte. Jetzt hat man sie wiederentdeckt. Das Kammerensemble Neue Musik Berlin und die Danish Chamber Players haben eine ganze Reihe dieser Stücke, zum Teil mehrfach, aufgeführt. Mit Verbissenheit und Charme ackern sich die Musiker durch die musikalischen Grafiken, hörbar bemüht, den farblosen und klar konturierten Ton der Fünfzigerjahre zu treffen. Keine aktualisierende Interpretation also, sondern eher ein Stück Zeitgeschichte.

Berio und Brown haben in den Fünfzigerjahren einen Prozess in Gang gesetzt, der noch heute nicht abgeschlossen ist und der fragen lässt, was Musik sein könnte. Und wo Karassikov diesen Prozess fortschreibt, indem er die Musik in einem Meer der Stille ertränkt, da taucht Pierluigi Billone mit seinem Stück „ME.A.AN“ (1994) in die Tiefe hinab, um versunkene Klänge zu bergen. Die Kontrabasssaiten schnarren, ohne je zu schwingen. Und der Bariton, der kaum je seinen Mund öffnet, lässt jede Hoffnung auf Glanz fahren.

„Winter Music“ blieb in diesem Jahr mit nur zwei Uraufführungen und vielen alten Stücken deutlich hinter seinem Innovationspotenzial zurück. Hinzu kommt, dass die Danish Chamber Players mit einem skandinavischen Programm, das vor Naivität und Dilettantismus strotzte, dem Wochenende einen ordentlichen Dämpfer verpassten. Als Streifzug durch die jüngere Musikgeschichte konnte, wer es nicht wusste, immerhin erfahren, wie viel Schönheit Radikalität birgt. BJÖRN GOTTSTEIN