Stimmgewicht spaltet EU

Brüsseler Verfassungsgipfel scheitert an Uneinigkeit über das Verhältnis von Stimmenanteil zu Bevölkerungsstärke. Entscheidung auf 2004 verschoben

BRÜSSEL taz ■ Schadensbegrenzung ist das oberste Gebot nach dem Scheitern des EU-Verfassungsgipfels am Wochenende in Brüssel. Zwar konnten sich die Staats- und Regierungschefs nicht auf den vom Konvent vorgelegten Verfassungsentwurf einigen. Die Arbeit der Regierungskonferenz geht aber weiter. Außenminister Joschka Fischer (Grüne) sagte, der Verfassungsprozess sei nicht am Ende und nicht gescheitert. Die irische Ratspräsidentschaft, die ab 1. Januar 2004 die Geschäfte übernimmt, erhielt den Auftrag, im März eine Bewertung der Erfolgsaussichten vorzulegen. Erst danach wollen die Staats- und Regierungschefs entscheiden, ob die Verhandlungen über den Konventsentwurf noch im ersten Halbjahr 2004 fortgeführt werden. Ein EU-Grundgesetz noch vor den Europawahlen im Juni 2004 nach dem Beitritt zehn neuer Mitgliedstaaten im Mai ist damit so gut wie ausgeschlossen.

Der Ratsvorsitzende, Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi, hatte die Verhandlungen am Samstag nach nur 21 Stunden vorzeitig beendet, weil sich die Staats- und Regierungschefs nicht über die künftige Stimmenverteilung im Rat einigen konnten. Deutschland bestand bis zuletzt darauf, dass es mit über 80 Millionen Einwohnern deutlich mehr Gewicht haben muss als mittelgroße Staaten wie Polen und Spanien. Beide Länder, denen der Vertrag von Nizza ein überproportionales Gewicht verleiht, wehren sich gegen die Einführung der doppelten Mehrheit. Nach dem Konventsvorschlag müssen hinter Mehrheitsentscheidungen neben der Hälfte der Mitgliedstaaten zugleich 60 Prozent der Bevölkerung stehen. Der neue Abstimmungsmodus soll sicherstellen, dass die EU nach der Erweiterung auf 25 Mitglieder handlungsfähig bleibt.

Der gescheiterte Gipfel stürzt die EU nicht in eine juristische Krise. Problematisch ist aber, dass der Abstimmungsmodus von Nizza Blockaden im Rat erleichtert. CDU-Chefin Angela Merkel zeigte Verständnis dafür, dass Rot-Grün „nicht jeden Kompromiss akzeptiert hat, denn ein erweitertes Europa muss handlungsfähig sein“. Doch jetzt sei erkennbar, dass der schlechte Nizza-Vertrag von 2000 Deutschland und alle andern eingeholt habe. KARL DOELEKE

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