Verschwommene Männerträume

Voyeure straft Thomas Ruff mit Kopfweh: Seine Fotos von ,,Nudes“ und „Maschinen“ entfalten in der Kestner Gesellschaft Hannover malerische Wirkung

Ruffs Fotos bescheren Herrenmagazinen Skandale und sind doch superkritisch

aus Hannover Jörg Meier

Erst mal bekommt man Kopfschmerzen. Gelockt von der Ankündigung, die Kestner Gesellschaft zeige großformatige „Nudes“ des 45-jährigen Fotografie-Professors Thomas Ruff, ist der Voyeur voll Vorfreude dort hingegangen: Vielleicht ließe sich ja so die Wartezeit auf den Pirelli-Kalender, das beliebte Weihnachtsgeschenk, verkürzen. Jetzt steht er also in Hannovers ehemaligen Goseriede-Bad – aber anstatt superscharfe Sinnesfreuden serviert zu bekommen sind nur verschwommene Porno-Knipsereien zu sehen.

Schon, schon, das sind alles nackte und begrapschte Körper, aktiv verstrickt in sämtliche Konstellationen, die homo- und heterosexuelle Gelüste so hergeben: Entrückter Sex von vorn, hinten, oben, unten, geöffnete Schenkel und erigierte Penisse, Szenen gefesselter Brustwarzen und verschwommene Männerträume von frischem Teenie-Fleisch. Nur ist all das eben total unscharf, verwischt, verwackelt, verrissen – wie mit einem Code verschlüsselt.

Der Voyeur versucht ständig, das Bild in seiner Fantasie zu schärfen: bis der Kopf schmerzt. Zu erkennen ist aber nur eine verschwommen abstrakte Pixelstruktur. Und man fragt sich: Wie wäre es mit einem Klick auf die Scharfzeichner-Optionen, Herr Photoshop-Künstler?

Falsch gefragt, Herr Voyeur, belehren die Ruff-Interpreten. Die weichgezeichneten Softpornos sollen dem Künstler und seinem Verlag Schirmer/Mosel nicht nur zu Verkaufserfolgen verhelfen – was sie tun –, als Nachdruck dem „GQ“-Magazin einen Skandal bescheren – was sie taten – , sondern auch noch superkritisch sein. Ruff bezieht sein Basismaterial von einschlägigen Internet-Seiten, Amateuraufnahmen als digital-assisted Ready-mades. Im Gegensatz zu Gerhard Richter, der die foto-realistische Unschärfe seiner Bilder mit Übermalungen erreicht, bedient sich Ruff digitaler Bildbearbeitungsprogramme, um mehr zu zeigen als ein hyperrealistisches Bild. Er tilgt Details, modifiziert die Farbigkeit, vergrößert die Pixelzahl, verschiebt Bildebenen, setzt Bewegungsunschärfen ein.

Die malerische Wirkung ist frappierend – von geradezu impressionistischer Qualität und schwiemeliger David Hamilton-Atmosphäre. Die softwaretechnischen Eingriffe sollen die Differenz von der Kunst zur Anti-Kunst des Schmuddelgenres herstellen. Und von den Oberflächen auf die Inhalte verweisen.

Ruffs nicht eben originelles Kernthema: Fotografie ist immer auch Manipulation. Durch die Verfremdungen sollen wir den Kopfschmerz spüren angesichts einer entseelten, in immergleichen Posen erstarrten, entindividualisierten Vergnügungswelt – als Simulation einer sexuell aufgeladenen Wirklichkeit.

Ein Beispiel für die „Neue Düsseldorfer Schule“, wie die sehr gehypten, sehr teuren Fotokünstler genannt werden, die an der Kunstakademie bei den dokumentierenden Realisten Hilla und Bernd Becher studiert haben. Ruff und seine Kommilitonen stehen für einen neuen Akademismus, in dem die Subjektivität künstlerischer Identität in den Hintergrund, Technik in den Vordergrund rückt. Ruff: „Ich denke, eine gute Fotografie sollte immer auch das Medium reflektieren und die Konstellation Aufnehmender/Kamera/Bildmotiv hinterfragen.“ Denn sie sei, wie die Malerei, immer für alle möglichen Interessen benutzt worden.„Die meisten Fotos“, so Ruff, „haben die Authentizität einer manipulierten und inszenierten Realität.“

Zum Beweis, dass dies keine Erfindung des Photoshop-Zeitalters ist, zeigt Teil 2 der Schau die Serie „Maschinen“. Wie bei den „Nudes“ ist der Fotograf nicht mehr Fotograf, nur noch Bildbearbeiter. In diesem Fall von historischen Glasnegativen, die der Hausfotograf eines Düsseldorfer Maschinenherstellers für einen Werbeprospekt erstellte.

Ruff hat die Fräsen, Sägen, Stanzen – also die Produktionsmittel – wie die Produkte, die Schrauben und Bohrer, mit rostig melancholischen Farben aus dem Kontext herauskoloriert und alles in großformatigen Abzügen wieder zusammengefügt. Manipulationen sind kenntlich: Bereits auf den Glasplatten waren Kanten nachgezogen, Lichteffekte appliziert worden. Retuschen erzeugen Glanz auf den metallischen Oberflächen.

Die geschickte Wahl der Perspektive lässt die „Maschinen“ wie majestätische Statuen erscheinen, Inbegriff von Kraft und Präzision. Für die Prospektverwertung wurde der Bildhintergrund mit gewedelten Bettlaken verwischt und weggebleicht. Was den „Maschinen“ heute eine geradezu surreale Poesie verleiht: wie auf Nebelwolken schweben sie durch Industriehallen, schemenhaft flankiert von Menschen-Geistern.

Der ästhetische Reiz der Aufnahmen ist weitaus größer als die Erkenntnis, dass jedes Foto nur das zeigt, was der Fotograf will. Dass Wirklichkeit also nicht abgebildet, sondern konstruiert wird. Davon bekommt man dann wieder Kopfschmerzen: Wo endet das Photoshop-Handwerk, wo beginnt die Kunst? Und: Gäbe es ein Leben ohne Pirelli-Kalender? Jörg Meier

Nudes und Maschinen, Kestner Gesellschaft, Hannover. Täglich außer Mo, 10 bis 19 Uhr, Do bis 21 Uhr. Katalog: 30 Euro. Bis 29. 2.