BETTINA GAUS POLITIK VON OBEN
: Der Wunsch nach künstlichem Gefühl

Von Dieter Althaus wird verlangt, dass er Schuldgefühle zeigt. Wie soll er das anstellen, wenn er sich an den fraglichen Vorfall gar nicht erinnert?

Es hört einfach nicht auf. Spätestens am Montag werden wieder viele darüber reden und manche darüber geschrieben haben, ob Dieter Althaus beim Landesparteitag der CDU in Thüringen denn nun schuldbewusst und zuversichtlich genug dreingeschaut hat. Er muss beides gleichzeitig sein, um alle Erwartungen zu erfüllen: schuldbewusst angesichts der Tatsache, dass bei einem von ihm verursachten Skiunfall eine Frau gestorben ist. Zuversichtlich hinsichtlich der bevorstehenden Landtagswahl. Das ist eine unerfüllbare Aufgabe.

Als ich noch in Nairobi lebte, wohnte bei mir vorübergehend ein Bekannter von Bekannten – ich nenne ihn mal Achim –, der eine Unterkunft brauchte, bis der Hergang eines Verkehrsunfalls geklärt war. Achim hatte mit seinem Motorrad eine Fußgängerin totgefahren und dabei ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Er konnte sich an nichts erinnern, weder an den Zusammenprall noch an die Stunden davor und auch nicht an die ersten Tage im Krankenhaus.

Achim war ein netter, freundlicher Kerl. Bei einem Picknick in größerem Kreis erzählte er unbeschwert von seiner Reise durch Afrika. Zum Beispiel: wie eine Gruppe von Dorfbewohnern in einer abgelegenen Gegend entsetzt davongelaufen sei, als er mit laut aufheulendem Motor die Straße entlangpreschte. Niemand lachte. Wir alle saßen wie versteinert da. Achim schaute erst gekränkt, dann verunsichert in die Runde. Bis es ihm dämmerte. Und er erschrak.

Schuldbewusstsein setzt Erinnerung und Erkenntnis voraus. Wovon ich nichts mehr weiß, das ist auch nicht Teil meines Lebens. Käme heute die Polizei zu mir und wiese mir zweifelsfrei nach, dass ich vor fünf Jahren einen Menschen umgebracht hätte: Ich hätte Angst vor Strafe. Aber schuldig fühlen würde ich mich nicht.

Unentwegt fordert die Öffentlichkeit, Politiker sollten „authentisch“ sein. Sind sie es dann aber mal, dann ist es auch nicht recht. Wäre es authentisch, wenn Dieter Althaus in Reue zerflösse – ohne selbst zu wissen, was genau er bereuen muss?

Im Fall Althaus steht niemand gut da. Auf der einen Seite gibt es eine pharisäische Gesellschaft, die so tut, als wisse sie ganz genau, was richtig und was falsch ist. Auf der anderen Seite verweigert sich ein störrischer Mann dem Anspruch dieser Gesellschaft – aber eben nur teilweise. Er bleibt auf halber Strecke stehen. Deshalb stottert er herum, redet von Verantwortung statt von Schuld. Statt zu sagen: Das, was geschehen ist, entzieht sich einer öffentlichen Bewertung. Das hätte ja den Vorzug, wahr zu sein. Nicht alles, was Prominenten widerfährt, kann von der Öffentlichkeit beurteilt werden. Demokratie ist nicht dasselbe wie Voyeurismus. Etwas allerdings sollte man von politischen Spitzenkräften erwarten dürfen: dass sie diesen Unterschied wenigstens zu benennen wissen. Und zu benennen wagen.

■ Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: Amélie Losier