Das Montagsinterview
„Wir machen ein Fass auf“

Kein Unterschied zwischen Schrumpfköpfen und Picassos: Die Restitutions-Debatte erreicht die naturkundlichen Museen
MEIN ODER DEIN Bislang ist die Restitutions-Debatte auf Kunstmuseen beschränkt. Der Bremer Biologe und Völkerkundler Peter-René Becker vom Überseemuseum will nun die Auseinandersetzung mit unrechtmäßig erworbenen Sammlungen in die naturkundlichen Museen tragen. Im eigenen Haus hat er den Anfang gemacht

INTERVIEW HENNING BLEYL

taz: Herr Becker, alle Welt redet über die Restitution NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts an die Erben jüdischer Alteigentümer. Aber haben naturkundliche Museen nicht ebenfalls von Zwangsversteigerungen und dergleichen profitiert?

Peter-René Becker: Davon ist in der Tat auszugehen. Es gibt zwei Gründe, warum die entsprechende Diskussion in den naturkundlichen Museen jetzt erst beginnt: Zum einen sind die merkantilen Werte nicht ganz so groß wie bei Kunstobjekten, zum anderen sind naturkundliche Sammlungen noch schwerer wieder aufzufinden.

Weshalb?

Wegen ihrer Identifizierbarkeit. Ein Erbe kann sagen: In unserer Wohnung hing ein Matisse oder anderes. Aber wenn man nur weiß, mein Vater hatte 1.000 Käfer, dann wird das sehr schwierig. Dabei können auch sie große Werte darstellen – insbesondere, wenn es sich um so genannte Holotypen handelt. Also um Exemplare, anhand derer eine Spezies zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben wurde. Bei einer umfangreichen Insekten-, Muschel- oder Schneckensammlung oder einem entsprechenden Herbar sind schnell zehn solcher Typen dabei.

Umso wichtiger ist die Eigeninitiative der Museen, ihre Bestände nach zweifelhaften Erwerbsumständen zu durchforsten. Wie weit sind Sie damit in Ihrem eigenen Haus?

Wir haben die Eingangsbücher der Jahre 1933 bis 1945 nach Eintragungen wie „J. A.“ für „Judenauktion“ und anderen verdächtigen Hinweisen durchsucht, etwa „Geschenk des Gauleiters“. Auch auf jüdische Namen von Verkäufern. Aber es war nichts dabei.

Die schwierigste Aufgabe ist die Rückverfolgung der Erwerbskette bei Objekten, die nach 1945 ins Haus gelangten. Wie weit sind Sie da gekommen?

Damit haben wir noch gar nicht begonnen. Es kann ja jedes Stück verdächtig sein, das unsere Wissenschaftler nicht selbst vor Ort gesammelt haben, sondern das über einen Händler oder per Privatverkauf zu uns kam. Das ist wirklich ein weites Feld. Aber wir müssen es angehen.

Sind andere Häuser diesbezüglich schon weiter?

Nicht soweit es mir bekannt ist. Viele Kollegen reagieren eher überrascht, wenn man ihnen sagt, dass auch in unseren Häusern eine solche Suche ansteht.

Sie bemühen sich auf Bundesebene, eine Aufarbeitung in Gang zu bekommen. Vergangene Woche hat sich Ihre überregionale Arbeitsgruppe zum ersten Mal getroffen. Wie gehen Sie vor?

Zunächst müssen wir ein Manual entwickeln, das dann den etwa 200 naturkundlichen Museen in Deutschland zur Verfügung steht. Was die Häuser daraus machen, ist freilich deren Sache.

Für geraubte Kunst gibt es mittlerweile das Internet-gestützte Lost Art Register. Lässt sich ein solches Suchportal auch für den naturkundlichen Bereich in absehbarer Zeit einrichten?

Bis dahin ist es noch ein sehr weiter Weg. Derzeit haben wir ja noch keine Suchanfragen von Erben oder Altbesitzern.

Fühlen Sie sich vom Deutschen Museumsbund (DMB) ausreichend unterstützt? Mit Hinweisen auf die vom Kulturstaatsminister regelmäßig vergebenen Mittel zur Provenienzforschung ist der DMB eher sparsam.

Das Thema trifft bei den Kollegen auf offene Ohren. Wir machen in der Tat ein Fass auf, aber das wird mehrheitlich positiv mitgetragen. Die Kollegen begrüßen das.

Rechnen Sie mit einem ähnlichen Umfang an NS-verfolgungsbedingt entzogenen naturkundlichen Sammlungswerten wie bei den Kunstgegenständen?

In der Summe ist das sicherlich weniger. Aber unsere Agenda ist ja noch wesentlicher umfangreicher: Neben der NS-Zeit wollen wir auch die Enteignungen in der damaligen DDR aufarbeiten, die so genannte Schlossbergung. Und schließlich geht es auch um die umgekehrte Richtung, also die Rückgabe von im Krieg verlorenen Sammlungen und Exponaten an deutsche Museen. Da ist unser Haus beispielsweise selbst ein gebranntes Kind.

Inwiefern?

Wir hatten eine der weltweit bedeutendsten Flechtensammlungen, zusammengetragen von dem Bad Zwischenahner Bäckermeister Johann Heinrich Sandstede. Die gibt die Tschechische Republik nicht heraus, obwohl sie als EU-Mitglied dazu verpflichtet ist. Während des Zweiten Weltkrieges war die Sammlung ins Kaiser-Wilhelm-Institut für Bastfaserforschung in Mährisch-Schönberg ausgelagert worden. Unsere Etiketten kleben noch dran.

Warum ist die Sammlung des Bäckermeisters so wichtig?

Wenn Sie einem Lichenologen irgendwo in der Welt den Namen Sandstede sagen, kriegt der leuchtende Augen. Der ist in Flechtenkreisen eine Riesennummer.

Wobei die diesbezügliche Fangemeinde überschaubar sein dürfte.

Natürlich gibt es nur wenige Fachleute. Aber die Flechtenforschung hat hochaktuelle Anwendungsfelder! Eine Flechte ist eine Mischung aus Pilz und Alge, die sehr sensibel auf Luftschadstoffe reagiert. Diese Indikator-Funktion war schon bei der Erforschung des sauren Regens wichtig.

Ein Haus wie das Übersee-Museum muss sich auch damit auseinander setzen, dass Objekte in ehemaligen Kolonien durch Zwang oder Übervorteilung erworben wurden.

Nicht jede Glasperle war für Eingeborene so wertlos, wie das aus europäischer Sicht erscheint. Vielleicht hat bei so einem Tauschhandel eher der Einheimische den Weißen für bescheuert gehalten und sich gefragt, was will der mit meiner alten Schlafmatte. Etwas ganz anderes ist es natürlich, wenn bei „Strafexpeditionen“ Beute gemacht wurde.

Nun ist Ihr Haus nicht der Louvre, der unter anderem à la Napoleon mit ägyptischen Antiquitäten gefüllt wurde. Aber dafür haben Sie einige menschliche Sammlungsstücke.

Gerade das Thema human remains wird sehr defensiv behandelt. Die Vertreter betroffener Ethnien, die deswegen an uns herantreten, bitten dabei um Diskretion und Stillschweigen.

Müssten solche „Ausstellungsstücke“ nicht konsequent und umfassend rückgeführt werden?

Das sind berechtigte Forderungen. Bloß darf man nicht die gut gemeinte, aber schlecht gemachte Rückgabepolitik der 70er Jahre wiederholen. Damals wurde oft nicht ordentlich geklärt, wem man was unter welchen Umständen übergeben kann – in der Folge füllte sich der Londoner Schwarzmarkt mit Schrumpfköpfen. Im Zweifelsfall sind die Sachen bei uns besser aufgehoben als bei Ebay. Aber ich muss auch drauf hinweisen, dass das Gros unserer Schädel und Knochen norddeutschen Ursprungs ist. In den 50er Jahren wurde der Remberti-Kirchhof aufgelassen, da haben wir sehr viel geerbt.

Zurück zur NS-Problematik: Nach der Rückgabe von geraubter Kunst an Alteigentümer oder deren Erben wurde manchmal bemängelt, dass solche Werke anschließend an Privatleute verkauft wurden – als ob sich individuelles Gewinnstreben gegen eine Art geistiges Volkseigentum versündigen würde. Sind solche abstrusen Vorwürfe auch bei restituierten naturkundlichem Besitz zu befürchten?

Ich bedaure es schon, wenn sich ein amerikanischer Millionär einen Archaeopteryx über den Schreibtisch hängt und der dadurch der Öffentlichkeit und Wissenschaft nicht mehr zugänglich ist. Jeder Archaeopteryx hat anders gelegen, bei dem einen sieht man einen Teil des Skeletts besser, beim anderen kann man eher die Federn gut untersuchen. Das ist ja der Unterschied zwischen Kunst und Natur: Jede Mücke ist ein Original. Und Holotypen müssen für die Forschungs-Community erst recht erreichbar bleiben. Schließlich werden auch alle Veränderungen der Spezies an Hand der Differenz zum Holotyp definiert. Das sind sozusagen die Urmeter unserer Wissenschaft.

In solchen Fällen müssen eben die Museen das Höchstgebot abgeben beziehungsweise ein Vorkaufsrecht bekommen.

Zum Beispiel. Dass verlorenes privates Eigentum zurückgegeben werden muss, ist ja gar keine Frage. Ein Problem bleibt übrigens, dass wir uns um das Verschwinden von Raubgut in Privatsammlungen gar nicht kümmern dürfen. Die „Washingtoner Prinzipien“, die eine moralische Position gegen die juristische Verjährung von Eigentumsverlusten darstellen und Grundlage der jetzigen Rückgabedebatte sind, beziehen sich ja nur auf öffentliche Einrichtungen.