Verführung zur Freiheit

THEATERTREFFEN Jürgen Gosch inszeniert „Idomeneus“ und erhält den „Theaterpreis Berlin“

Zehn Jahre Krieg gegen Troja hat der kretische König Idomeneus hinter sich, als sein Schiff auf der Heimreise in einen lebensbedrohlichen Sturm gerät. 3.650 Tage Schlacht – und dann dieser Tod? Da lässt sich selbst der Meeresgott Poseidon erweichen und bietet Idomeneus einen Tauschhandel an: Er kann sein eigenes Leben retten, wenn er den ersten Menschen opfert, den er bei seiner Rückkehr antrifft. Es wird sein Sohn Idamantes sein.

Der Gegenwartsdramatiker Roland Schimmelpfennig nutzt diesen griechischen Idomeneus-Mythos als Steilvorlage für ein Kopftheater, das mit den existenziellen Grundzutaten jongliert: Liebe, Schuld, Endlichkeitsangst, Tod. Nach Dieter Dorns Uraufführung im letzten Jahr brachte Jürgen Gosch dieses Sprachkonzert nun am Deutschen Theater Berlin heraus. Kaum hat sich sein Chor an eine Möglichkeit herangetastet, wie alles gewesen sein könnte, wird selbige schon wieder infrage gestellt. Und kaum hat der Chor eine Tonlage angeschlagen, wird die von einer neuen überstimmt: Margit Bendokats Lakonie weicht Meike Drostes Pragmatismus, Christian Grashofs Übereifer Alexander Khuons Trauer. Nur ein Sound glänzt garantiert durch Abwesenheit: jener hohe Theaterton, der das Gesehene immer so deutlich als Hergestelltes entlarvt.

Womit wir beim zentralen Punkt des Gosch-Theaters wären: Die radikale Besinnung auf die nackte Bühnenexistenz, die Verführung seiner Schauspieler zu maximaler Freiheit haben den 66-Jährigen in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Regisseure des Landes gemacht. Zusammen mit dem Bühnenkünstler Johannes Schütz, der dafür die Räume schafft: Wie schon in Goschs Tschechow-Inszenierung „Die Möwe“ spielen auch die „Idomeneus“-Akteure vor einer riesigen Wand mit einer eingelassenen Sitzbank. Nur ist das Szenario hier nicht schwarz, sondern weiß und die Wand zudem noch näher an die Rampe gerückt. Für die elementare Intensität, die sie in diesen Räumen entstehen lassen, wurden Jürgen Gosch und Johannes Schütz gestern im Rahmen des Theatertreffens mit dem „Theaterpreis Berlin“ der Stiftung Preußische Seehandlung ausgezeichnet. Die Ehrung im Deutschen Theater war nicht die erste: Bereits im Anschluss an die „Idomeneus“-Premiere hatte das Internationale Theaterinstitut dem erkrankten Gosch den „Welttheaterpreis“ verliehen. Und seine Theatertreffen-Präsenz spricht sowieso für sich: Nachdem Goschs Tschechow-Arbeit „Onkel Wanja“ letztes Jahr von der Fachzeitschrift Theater heute zur „Inszenierung des Jahres“ gewählt wurde, ist er dieses Jahr gleich mit zwei Abenden – Tschechows „Möwe“ vom Deutschen Theater und Roland Schimmelpfennigs „Hier und Jetzt“ vom Schauspielhaus Zürich – bei der Leistungsschau vertreten.

Corinna Harfouch, die in beiden Aufführungen spielt, sagte einmal, man hole das Material bei keinem anderen Regisseur so pur aus sich selbst. Das führt zu einer Durchlässigkeit, über der „Hier und Jetzt“ als Motto stehen könnte: Das Spiel wirkt jedes Mal, als hätten es die Akteure justament erfunden.

Scheinbar völlig unangestrengt legt Gosch Dimensionen frei, die existenzieller nicht treffen könnten. Vielleicht ist dieses voraussetzungslose Zulassenkönnen jedweder Möglichkeit nicht nur komplexer, sondern in einem individuellen Sinn auch politischer als viele andere Theateransätze, die Figuren und Texte im Dienste ihrer These zurechtmodellieren. CHRISTINE WAHL