Ölbohrungen in der Kinderstube der Fische

Norwegens Regierung beschließt Bohrungen im Barents-Meer. Ersatz für versiegende Vorkommen der Nordsee

„Wenn wir ehrlich sind, können wir eine ‚Null‘-Belastung niemals garantieren“, erklärt Shell

OSLO taz ■ Selten hat eine Entscheidung der norwegischen Regierung so scharfe Kritik von Umweltschützern ausgelöst. Oslos Ankündigung, in der Barentssee nach Erdöl zu bohren, nennt Greenpeace „ein Exempel politischer Feigheit“. Ein „haarsträubender Beschluss“, der massiv die Umwelt und wichtige Fischbestände bedrohe, urteilt der norwegische Naturschutzverband. Die Regierung habe Öl statt Umwelt gewählt und ihre „Glaubwürdigkeit an die Ölindustrie verkauft“, beklagt die Umweltorganisation „Natur og Ungdom“. Und die Umweltorganisation Bellona hat Aktionen angekündigt, die sich mit dem Aufruhr um den Bau des Alta-Staudamms vor 25 Jahren vergleichen ließen.

Der Nordspitze Norwegens und Europas vorgelagert liegen unter dem Barentsmeer reiche Ölvorkommen. Sie anzubohren war bisher tabu. Erste Probebohrungen stoppte vor drei Jahren die damalige sozialdemokratische Regierung unter Hinweis auf das Umweltrisiko. In dieser Woche gab ihre Nachfolgerin unter dem christdemokratischen Ministerpräsidenten Kjell Magne Bondevik grünes Licht. Anträge der norwegischen Ölkonzerne Statoil und Hydro sowie der italienischen Agip auf neue Bohrungen unter anderem vor dem Nordkap und Hammerfest wurden genehmigt. Die Konzerne haben versprochen, dass die Förderaktivitäten keinerlei Umwelteinfluss haben würden, der Austritt von Chemikalien und Öl werde bei „null“ liegen.

Für die Umweltorganisation Bellona eine glatte Lüge: Nirgends auf der Welt gebe es eine „Null“-Einwirkung auf die Natur durch Ölbohraktivitäten. Die Konzerne sollten dies erst einmal in der Nordsee üben. Gerade veröffentlichte Zahlen zeigen, dass „unbeabsichtigte“ Öl- und Chemikalienleckagen im letzten Jahr hier häufiger vorgekommen sind als zuvor. Und Shell-Informationsdirektor Einar Knudsen gibt zu: „Wenn wir ehrlich sind, können wir eine ‚Null‘-Belastung niemals garantieren.“ Dabei ist die Nordsee verglichen mit dem Barentsmeer ein ausgesprochen friedliches Meeresgebiet. Im Norden sind nicht nur die Sturmtage wesentlich zahlreicher und die Wellen höher. Die Klimaveränderungen lassen nach Forschungsberechnungen in den nächsten Jahren eine Verdoppelung der kräftigsten Stürme und bis zu 1,50 m höhere Wellen als bisher erwarten.

Das Barentsmeer ist „Kindergarten“ der wichtigsten noch nicht ausgerotteten Fischarten. Eine Ölkatastrophe hier würde unabsehbare Folgen für diese Bestände haben. Mit Rücksicht auf Fischerei- und Umweltinteressen legte die Regierung in Oslo immerhin ihre ursprünglichen Pläne, Ölbohrungen vor den Lofoten-Inseln zuzulassen, erst einmal auf Eis. Gegen den Einzug der Ölwirtschaft in dieses für den Tourismus attraktive Gebiet hatte es eine Protestwelle auch auf internationaler Ebene gegeben. Doch länger als bis 2005/2006 reicht das jetzige Lofoten-Moratorium zunächst nicht. Denn, so Ölminister Einar Steensnæs: Norwegen müsse im Interesse kommender Generationen rechtzeitig Ersatz für die langsam versiegenden Nordseeölvorkommen finden. Dabei fließen die Ölgelder so reichlich in die Staatskasse, dass Norwegen mit seinen vier Millionen EinwohnerInnen schon jetzt über 100 Milliarden Euro auf der hohen Kante liegen hat. Ein Überschuss, der sich in den nächsten acht bis zehn Jahren verdoppeln soll. REINHARD WOLFF