BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Noch 87 Sekunden bis zur Notwehr

Jonas berauscht sich an Kuchen, die Union an Werten. Da wird mir klar: Wir brauchen Familiengrenzwerte!

Die Weihnachtsfeier der BFC Amateure hat ihren Höhepunkt erreicht: Bommel und sein Kumpel mit den Kinderliedern sind durch. Der Spieler des Jahres ist gekürt. Der Weihnachtsmann hat sich über die mangelnde Disziplin bei der 2. E-Jugend beschwert. Trainer und Betreuer haben auf der Bühne „O Tannenbaum“ geröhrt. Die Kinder haben sich bei den beiden für das ehrenamtliche Engagement bedankt. Die Weihnachtsfeier ist insgesamt prächtig zu nennen –überall stehen Kuchen und Kekse. Dann beugt sich Jonas zu mir und sagt: „Papa, mir tut mein Bauch so weh.“ Seine Augen sind geweitet. Der Bauch ganz hart. Er schwitzt und legt das angebissene Kuchenstück wieder zurück.

„Wie viele Stücke hat er denn gegessen?“, fragt Anna zu Hause besorgt, als sie den apathischen Jonas aufs Sofa legt. Keine Ahnung. Ich habe am Elterntisch gesessen. „Mehr als drei ist einfach zu viel.“ Das ist mir neu: Es gibt einen individuellen Grenzwert für die Aufnahme von Kuchen.

Bei Spekulatius habe ich mich daran gewöhnt: Nicht mehr als 120 Butterspekulatius sollte man täglich essen – wegen der Belastung mit Acrylamid. Einhundertzwanzig! Das schafft selbst Jonas nur in Bestform. Aber bei Gewürzspekulatius sieht der Grenzwert ganz anders aus: Nicht mehr als neun Kekse am Tag, raten Verbraucherschützer. Neun Spekulatius! Das wiederum schaffen unsere Kinder morgens, ehe wir aus den Betten gekommen sind.

„Endlich mal eine nützliche Zahl, an der man sich orientieren kann“, sagt Anna mit vollem Mund am Abend. Während Jonas seinen Kuchenrausch ausschläft, sitzen wir in der Küche und vernichten das gefährliche Gebäck. „Solche Zahlen sollte es öfter geben.“ Gerade vor Weihnachten wären Grenzwerte hilfreich: An wie vielen Clementinenschalen darf Baby Stan lutschen, ehe er die Mundhöhlenpest bekommt? Die wievielte Wiederholung der „Weihnachtsbäckerei“-CD treibt Tina ins Delirium? Wie viel Pakete pro Kind machen uns zu Konsumfetischisten?

Überhaupt: Grenzwerte sind eine gute Idee. Nicht nur für die Belastung der Atemluft mit Schwefeldioxid. Schön wäre auch ein Liter-Limit für den Verbrauch von Benzin in Automotoren. Anders als bei den Angstmachern auf den Zigarettenpackungen („Rauchen macht arm, hässlich, und sorgt für schlechten Sex“) sollten die neuen Grenzwerte konkrete Warnhinweise sein: „90 Minuten Fernsehgala mit André Rieu kosten Sie 56.498 Hirnzellen.“ Oder: „Ab 15 Kilo verdreifacht ein Kind Ihr Risiko auf einen Bandscheibenvorfall.“ Wichtig wäre auch dieser Grenzwert: „Ein halbes Jahr Schulsuche nach Pisa-Kriterien macht Sie reif für die Anstalt“ oder „Mehr als vier Tage Urlaub bei den Großeltern gefährden den Generationenvertrag“.

Durch diese Regeln würden auch Grenzerfahrungen der Eltern viel einfacher. Endlich brauchen sie nicht mehr nur davon zu träumen, wild und gefährlich zu leben. Sie hätten es jetzt schwarz auf weiß, wie nah sie jeden Tag am Abgrund balancieren. Einfach auf das Etikett geschaut und schon wissen sie: Noch drei Löffel von dem Brei und meine Tochter hat so viel Eisen im Körper, dass ihr Po magnetisch wird. Noch 1,7 Kinder und ich kann beruhigt in Rente gehen. Noch 87 Sekunden in diesem Geschrei und jeder Richter billigt mir Notwehr zu.

Das wäre endlich eine lohnende Debatte, an der sich Patrioten, Matrioten und Idioten gleichermaßen beteiligen könnten: Muss nur ein Ruck oder gleich ein Ruckzuck durchs Land gehen? Welche Grenzwerte braucht unser Land? Wenn die Konservativen aus der Union wieder mit den „Familienwerte“ winken, will ich wissen: Wo sind die Familiengrenzwerte? Wie viel Treue, Liebe, Fürsorge und Aufopferung verträgt diese Gesellschaft – jedenfalls wenn man sie definiert wie Angela Merkel und George W. Bush? Wo führt das hin, wenn Politiker meinen, mit mir meine Familienwerte oder den Wert meiner Familie diskutieren zu müssen?

Es führt ganz schnell von den Werten zu den Grenzen. Alle sind sich einig: „Erziehung heißt Grenzen zu setzen.“ Das hat Walter Ulbricht 1961 auch gedacht.

Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zu Kuchenrausch? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN