„Essen gehen“ kommt im Wortschatz nicht mehr vor

Wohlfahrtsverbände prangern Sparbeschlüsse des Senats bei den Erziehungshilfen als „soziale Katastrophe“ an – und fordern Grundstücksverkäufe

Großartige Wünsche haben sie nicht. Berlin von oben sehen, vielleicht irgendwann. Im Kino waren beide schon lange nicht mehr und die Wendung „Essen gehen“ ist aus ihrem Wortschatz gestrichen. Was für sie zählt, ist das Wohl ihrer Kinder.

Jessica, 18, und Stefanie, 18, sind Mütter, die allein nicht klarkommen. Denen der Verein zum Schutz junger Mütter – LebensNetz e. V. einen Hort bietet. Lebensmittelpunkt Konfliktberatungsstelle. Für die beiden jungen Frauen die Existenz, die im Augenblick gefährdet ist – durch die Kürzungen des rot-roten Senats bei der Erziehungshilfe.

Nach dem aktuellen Haushaltsplanentwurf will der Senat 2004 noch 362 Millionen Euro an Hilfe zur Erziehung bereitstellen. Vor zwei Jahren lagen die Ausgaben noch bei 455 Millionen Euro. Zahlen sind an Lebensläufe geknüpft. Die präsentierte gestern die Berliner LIGA, Dachverband der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege Berlin.

Jessica und Stefanie teilen ihre Lebenssituation im Augenblick. Die eine ist zweifache, die andere einfache Mutter. Viel zu jung seien sie gewesen für die Kinder, das sehen sie mittlerweile ein. Trotzdem sind Serge, Jean Pascal und Justin Leon Norman, die drei Söhne der beiden Mütter, willkommen. „Meine waren Wunschkinder“, sagt Jessica. „Mein Sohn nicht“, meint Stefanie. Doch Abtreibung stand für sie nie zur Debatte, denn „das ist Mord“. Und Verhütung? „Die Pille vertrage ich nicht.“ Andere Verhütungsmethoden wurden nicht debattiert in der Familie, über die Stefanie ein wenig und Jessica gar nicht reden will: „Es war schlecht. Mit Kloppen und so“, sagt Jessica leise und schaut auf den Boden. Ihre Zukunft ist vage. Beide sind jetzt volljährig und damit von Seiten des Jugendamtes für ihr Leben und das ihrer Kinder selbst verantwortlich. Sie müssen in naher Zukunft die Tagesstätte verlassen. „Manchmal ist da richtig Zickenalarm. Trotzdem gibt’s mir Kraft“, meint Stefanie.

Siegfried Eichner, Geschäftsführer des Vereins zum Schutz junger Mütter, sorgt sich um die Frauen. „Man kann im Ernstfall nicht alle auffangen“, weiß er. In seinem Haus wurden Ende 2002 die 1,8 Psychologenstellen gestrichen – und schon damals sollten diese für 25 mental instabile Frauen in den Wohngruppen reichen. Dazu kamen und kommen noch Frauen im betreuten Wohnen, für die eigentlich weitere Psychologen vorgesehen waren, außerdem die Mitbetreuung der Not- und Krisenaufnahmen – rund um die Uhr.

141 Berliner Einrichtungen, die allein der Paritätische Wohlfahrtsverband hält, wären von den Kürzungen betroffen. Es gibt im Augenblick in Berlin 21.000 Kinder in Erziehungshilfe. Die Kürzungen bedeuten für die gesamte LIGA einen Verlust von 2.000 Arbeitsplätzen, beschreibt Pressesprecherin Elfi Witten die Auswirkungen der Kürzungen.

Um anschaulich zu machen, was das bedeutet, beauftragte die LIGA zwei Journalistinnen, die Betroffene befragten. Da erzählt Max, 7, aus der Tagesgruppe „Die Wille“: „Wir haben viele Regeln. Zum Beispiel dürfen wir keine Kinder schlagen. Manchmal will ich unbedingt kloppen oder andere anspucken. Meine Schwester ist im Drogenheim. Sie nimmt Heroin.“

Von Schicksalen lassen sich Politiker nicht beeindrucken, glaubt Thomas Dane, Vorsitzender der LIGA, und fordert den Senat zum Verkauf von Grundstücken und Unternehmensbeteiligungen auf. Die Sparbeschlüsse bei den Erziehungshilfen in Höhe von rund 30 Prozent bis 2005 seien eine „soziale Katastrophe“. Sein Fazit: „Grundstücke sollen auch unter Preis verkauft werden, um die Zinszahlungen des Landes zu senken.“ Genug Geld, um den Kindern etwas zu Weihnachten kaufen zu können, würde Jessica und Stefanie erst mal reichen. LIA PETRIDIS