„Afrika hat eine radikalere demokratische Tradition als Europa“, sagt Tirmiziou Diallo

Westafrikas Staaten sind korrupt. Doch die traditionellen Strukturen funktionieren – und könnten Kriege verhindern

taz: In Westafrika breiten sich bewaffnete Konflikte aus. Nach Sierra Leone, Liberia und der Elfenbeinküste fürchten viele, dass Guinea – Ihr Heimatland – als Nächstes an der Reihe ist. Was ist das Grundproblem, das zu solchen Krisen führt?

Tirmziou Diallo: Der moderne Staat, wie es ihn in Afrika gibt, ist gescheitert. Die Staaten, die jetzt existieren, sind Protostaaten, deren Strukturen in der Bevölkerung nicht greifen. Ich kenne kaum einen Afrikaner, der zwischen Staat und Regierung unterscheidet. Institutionen sind ein Mittel zum Zweck, für ein privates oder Gruppeninteresse. Dagegen ist wenig zu sagen, aber der Staat müsste entsprechend organisiert werden. Aber die politischen Parteien überlegen nicht, wie ein Staat unabhängig vom Ausland lebensfähig wird.

Wie funktioniert der Staat?

Heute sind die ganzen Regierungen Patienten, die am Tropf der Industrienationen hängen. Deswegen ist das Militär die einzige Macht. Die Regierenden sind nicht qua Legitimität an der Macht, sondern durch die Macht der Waffen, weil sie keine Basis in der Bevölkerung haben. Auch wenn sie mit 80 bis 90 Prozent der Stimmen gewählt worden sind, hält die Bevölkerung sie für illegitim. Man geht wählen, damit man seine Ruhe hat.

Ändern Wahlen nichts?

Afrikanische Oppositionen bieten keine Alternativen an. Wenn die Opposition nur die Regierung ablösen will, ohne jegliches Programm, lohnt sich das nicht. Es gibt noch ein Problem, gerade in Guinea: Die Opposition ist zerstritten, sie ist regional und ethnisch organisiert, obwohl sie sich national nennt.

Wie kann man dies ändern?

Vernünftig wäre eine föderale Staatsform. Regionale Parteien sollten unter sich ausmachen, wie sie eine gemeinsame Regierung bilden könnten und auch autonome Regionalregierungen. Das ist die beste Lösung nicht nur für Guinea, auch für die Elfenbeinküste, für Mali, mehr oder weniger für Senegal, für Nigeria allemal.

Sollten föderale Strukturen innerhalb der bestehenden Grenzen entstehen oder auch darüber hinaus?

Das wäre eine Überlegung wert. Es gibt Völker wie die Fulbe, die von Mauretanien bis nach Sudan reichen, oder die Haussa in Nigeria, die auch in angrenzenden Ländern leben. Es wäre wichtig, dass man Grenzen durchlässiger macht, wie in Europa: freier Verkehr für Menschen und Güter. Die Grenzen in Westafrika sind vielfach künstlich und berücksichtigen keine inneren Strukturen; die Bevölkerung akzeptiert sie nur widerwillig. Die Malinke in Guinea haben Familien in Liberia und heiraten nicht in Guinea, sondern in Liberia! Neuerdings finden die Kriege Afrikas, ob in Westafrika oder im Kongo, immer innerhalb der Grenzen eines Landes statt; es sind keine Grenzkonflikte zwischen Staaten. Der Grund ist: Der Lebensraum ist für die Leute zu eng, das Land explodiert von innen. Das hat mit den festen Grenzen zu tun. Wenn man sie durchlässiger macht, würde das die Konflikte entschärfen.

Wirklich? Milizen wandern von einem Land zum anderen, Handel mit Waffen und Rohstoffen heizt Kriege an. So stützte sich die Rebellion gegen Charles Taylor in Liberia auf liberianische Flüchtlingslager in Guinea. Ist also nicht eher die Durchlässigkeit der Grenzen das Problem?

Aber wenn man im Süden Guineas eine Regionalregierung hätte und Liberia auch föderal organisiert wäre – und die Völker im Süden Guineas sind die gleichen wie im Norden Liberias und Sierra Leones –, wäre die Beziehung über die Grenzen zwischen den gleichen Völkern und Kulturen viel leichter. Und wenn eine Zentralregierung einen Konflikt anfängt, könnte sie nicht damit rechnen, dass die beiden Grenzregionen da mitmachen, weil sie so eng zusammenarbeiten.

Droht nach den Wahlen in Guinea ein Bürgerkrieg?

Nicht unbedingt. Es gibt noch traditionelle Strukturen, die relativ gut funktionieren. Zwischen den Völkern Westafrikas gibt es aufgrund dieser traditionellen Strukturen Pakte, an die die Leute sich halten.

Können diese traditionellen Strukturen sich gegen die modernen Staaten richten?

Ich glaube nicht. Sie visieren nicht den Staat an, nur die Region. Das gilt für Afrika südlich der Sahara durchgehend. Wenn man es mit Afrika ernst meint, muss man mit diesen Strukturen zusammenarbeiten, nicht mit den Zentralregierungen. Es ist Unsinn, zu behaupten, dass Afrikaner nicht demokratiefähig sind. Afrika hat ein sehr ausgeprägtes Demokratieverständnis und eine radikalere demokratische Tradition als Europa. Wenn der Chef Fehler gemacht hat, ist er weg vom Fenster. Nicht durch Blutvergießen, sondern durch Konfliktlösungsmechanismen. Afrikaner haben eine Vorstellung von Recht, die dem angelsächsischen Gewohnheitsrecht ähnelt: Das Recht besteht nicht aus Paragrafen, sondern man versucht, bei gravierenden Problemen einen Mittelweg zu finden. Das lässt sich schwer mit kodifiziertem Recht vereinbaren.

Das ist die traditionelle Gesellschaft. Aber Afrika verstädtert sich, und in den Städten sind die traditionellen Bande lockerer.

Das sehe ich anders. Nur haben in den Städten die Leute nicht die Mittel, um Kontrolle auszuüben. Deswegen kommt es zu mehr Gewalt. Aber die Transparenz ist da. Die Leute wissen ganz genau, was der Präsident macht.

INTERVIEW: DOMINIC JOHNSON