Die Fata Morgana des westlichen Menschen

Realitätsverlust unter Zwillingstürmen: Wilfried Minks bringt David Lindemanns „Koala Lumpur“ am Schauspielhaus Bochum heraus

Mit seinem ersten ausgewachsenen Theaterstück namens „Koala Lumpur“ hat David Lindemann eine Art Höhlengleichnis geschrieben. Nur ist die Höhle ein Zelt. Ein Zelt auf einem Campingplatz in der Nähe von New York. Darin liegen, reden, urinieren Frau Schmidt, Sekretärin, und Max, Praktikant. Von der Außenwelt nehmen sie bloß einen ungefähren Widerschein wahr.

Sie haben zwar gehört, dass es einen Anschlag auf das World Trade Center gegeben hat. Deshalb wurde ja das Meeting verschoben, zu dem sie im Auftrag eines mittellosen Start-up-Unternehmens angereist waren. Aber sie können die Zerstörung des WTC – neudeutsch gesprochen – „nicht ganz realisieren“. Hartnäckig halten sie an dem Ziel fest, die Aussicht von der Spitze der Zwillingstürme zu genießen. Auf keinen Fall würde Frau Schmidt etwa mit den Petronas Towers in Kuala Lumpur – sie sagt „Koala“ – vorlieb nehmen. „Wenn Sie an Ihre Bilder glauben“, schärft sie ihrem Begleiter ein, „dann kann man Ihnen zwar das Wasser abgraben, aber die Fata Morgana einer lieblichen Oase kann Ihnen keiner nehmen.“

Der Zugriff auf die Realität ist den Zeltbewohnern also verloren gegangen. Über das, was wirklich ist, können sie keine Aussagen treffen. Stattdessen flüchten sie in jene Redeweisen, denen der westliche Mensch noch halbwegs vertraut. Zum Beispiel das klassische Beziehungsgespräch. Zuerst ein Geständnis: Eigentlich möge er sie, erklärt Max der herrischen Sekretärin. Es folgt die Zurückweisung: Langweilig sei er, erwidert Frau Schmidt, und seine Socken stänken. Sie selbst bevorzugt das Vokabular der neoliberalen Karriereplanung und zitiert den Erfahrungsbericht eines Extrembergsteigers. Sogar einen Exkurs in die Pornografie baut Lindemann ein.

Draußen herrscht die Realität in Form von Regen und Terroristen, drinnen verkriecht sich die Sprache im Schlafsack. Im Prinzip klug konstruiert, diese Zeltparabel. Doch die Textoberfläche, die David Lindemann über das Gestänge gezogen hat, ist grell und schlecht vernäht. Allzu deutlich stehen die Zeichen der Derealisierung an die Igluwand geschrieben. Als Platzhalter der Mediengesellschaft baumelt plötzlich ein Mikrofon herab, nach dem Max und Schmidt zu jagen beginnen. Darauf folgt unvermittelt eine Szene, die wohl die Unzuverlässigkeit sinnlicher Wahrnehmungen beweisen soll: Frau Schmidt glaubt, sie sei erblindet, obwohl es einfach dunkel ist. Einmal behauptet sie auch: „Wir sind hier nicht nur auf diesem Campingplatz gestrandet, sondern auch auf einer äußerst abschüssigen Textfläche.“

Die Figuren haben einen aufwändigen Parcours zu bewältigen: diverse Textgenres, groteske Situationen, postdramatische Reflexivität. Immer sind sie im Auftrag eines Einfalls unterwegs. Bei der Uraufführung in Bochum, die Wilfried Minks inszeniert hat, kriegen Katharina Thalbach und Fabian Krüger allerdings trotzdem die Kurve, für die Figuren ein eigenes Profil zu entwickeln. Sie geben den Figuren etwas Kindliches. Thalbach lässt die Sekretärin aus dem Dozieren ins Quengeln verfallen. Sie tippelt erst resolut über die Bühne, aber geht später auf der Flucht vor der Außenwelt in Embryonalstellung. Fabian Krüger spricht mit dem Eifer eines Musterschülers, wenn Max seine Hardcore-Prosa zu verteidigen versucht. Was natürlich lustig anzuhören ist.

Überhaupt betont die Inszenierung die fröhlichen Seiten des Campinglebens. Die Jagd nach dem herabhängenden Mikrofon bauen Thalbach und Krüger zu einer erstklassigen Slapsticknummer aus. Das hat sein Gutes: Gleich wirkt die Symbolik der Szene weniger aufdringlich. Doch in anderen Momenten bekommt die vergnügliche Grundstimmung dem Stück weniger gut. Sie lenkt allzu viel Aufmerksamkeit auf die Fäkalkomik, die in langen Dialogen breit geschmiert wird. Und je länger die Heiterkeit anhält, desto mehr droht aus dem Blick zu geraten, dass es um mehr gehen könnte als einen guten Lacher.

In „Koala Lumpur“, auf dem Theatertreffen in Berlin mit dem Nachwuchs-Dramatikerpreis ausgezeichnet, steckt ein Stück über Weltflucht und Sprachkokons. Aber wenn man nicht aufpasst, versinkt es im Komfort einer heimeligen Konvention: in der Comedy.

MORTEN KANSTEINER