Reise gegen Sittenhaft

Afghaninnen bereisen NRW, um sich Tipps für die Hilfe von Frauen in Gefängnissen zu holen. Im kriegsgeschüttelten Land fehlen faire Prozesse

Juristinnen tragen vor Gericht die Burka. Sie sehen aus wie die Angeklagten

AUS DORTMUNDANNIKA JOERES

Aziza weiß, dass sie kämpfen kann. „Ich kenne die Scharia und das Land, ich kann lesen und habe studiert.“ Die 35-jährige Frau aus Afghanistan wird eine der ersten Rechtsanwältinnen in dem zerstörten Land. Zusammen mit einer Delegation von medica mondiale, einer Organisation für Frauen in Kriegsgebieten, bereist sie gerade Nordrhein-Westfalen. Gestern informierten sie sich in der Frauenberatungsstelle Dortmund, die Tage zuvor waren sie in einem rheinischen Gefängnis und beim Auswärtigen Amt.

Aziza und ihre Organisation kämpfen für afghanische Frauen in Gefängnissen. Denn sie werden nur zu einem Bruchteil wegen einer Straftat wie Diebstahl inhaftiert, die meisten Frauen werden für Verstöße gegen die Sitte festgenommen. Zum Beispiel, wenn sie eine Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch anzeigen und Beweise fehlen. „Das ist besonders tragisch, dass die wenigen Frauen, die sich gegen diese Verbrechen wehren, häufig selbst im Gefängnis landen“, sagt die Bochumer Rechtsanwältin und medica-Mitarbeiterin Malin Bode. Auch wenn Ehemänner oder Eltern behaupten, ihre Ehefrau oder Tochter habe sich unsittlich verhalten und zum Beispiel andere Männer becirct, kann die Frau für Jahre inhaftiert werden.

Zwei Jahre nach dem offiziellen Ende des Krieges zwischen Taliban und den USA steckt das Rechtssystem noch in den Kinderschuhen. „Es gibt keine Strafverteidigerinnnen, niemand kennt ihre Rechte“, sagt Anou Anne Borrey, britische Projektleiterin von medico. Die meisten Prozesse liefen ohne Verteidigung ab, auch die Angeklagten äußerten sich nicht. Zum ersten Mal laufen nun Trainingsprogramme für Juristinnen, sie werden mit Unterstützung der UNO in rechtsstaatlichen Prozessen geschult, sie lernen Ermittlungsverfahren, Strafverteidigung und Plädoyers kennen.

Die Schwierigkeiten sind allerdings enorm. Einige der nun ausgebildeten Rechtsanwältinnen wollen auf ihre Burka, die komplette Verschleierung, nicht verzichten. Vor Gericht sind sie so von ihren Mandantinnen nicht zu unterscheiden. Und die Furcht vor einem Verlust der Ehre sitzt in den Familien tief. „Einige Frauen werden nach der Haftentlassung von der Dorfgemeinschaft umgebracht“, sagt Borrey. Deshalb ziehen sie und ihre Mitarbeiterinnen von Dorf zu Dorf, um die Menschen aufzuklären. „Frauen wissen nichts von ihren Rechten, die meisten sind Analphabetinnen und kennen nichts als die Dorfjustiz.“ Eine australische Aborigine hilft bei der Aufklärungsarbeit. Durch die Geschichte ihres Landes ist sie darauf geschult, traditionelle Rechte mit den neuen internationalen Rechten für die Menschen vereinbar zu machen.

Wenn Rechtsanwältin Aziza reist, muss sie zu einer Notlüge greifen. „Ich sage dann, mein Bruder sei noch im Hotel.“ Alleinreisende Frauen könnten in der Provinz eingekerkert werden Ihr Deutschlandbesuch habe sie noch mehr für ihre schwierige Arbeit motiviert, sagt die fünffache Mutter. Jede Frau müsse ihre Rechte kennen und nutzen.

Wenn die Rechte bekannt sind, müssen Frauen das Gefängnis weniger fürchten. Seitdem vier Rechtsanwältinnen Frauen vor Kabuler Gerichten verteidigen, ist der Anteil von weiblichen Häftlingen wegen Sittenverstoßes drastisch zurückgegangen: Saßen im Januar noch 46 Prozent der Frauen wegen angeblicher moralischer Vergehen ein, sind es jetzt noch 27 Prozent.