Experimentle an der Ruhr

Die Jazz-Szene an der Ruhr ist lebendiger als landläufig angenommen. Das Jazzwerk Ruhr präsentiert heute und morgen drei Bands, die das Revier zur Keimzelle ihres Schaffens gemacht haben

VON BERND SCHÄFER

Durchforstet man den Blätterwald überregionaler Feuilletons auf der Suche nach jazzigem Dasein im Ruhrgebiet, muss man annehmen, in einer Diaspora zu leben. Jazz kommt in der öffentlichen Wahrnehmung vorwiegend aus Amerika oder findet in anderen Metropolen statt. Dass es im Revier eine florierende Szene gibt, wird gerne totgeschwiegen.

Völlig zu Unrecht, findet Antje Grajetzky vom Jazzwerk Ruhr, einem regionalen Jazz-Forum: „Die Kreativzelle Ruhrgebiet gibt zahlreiche Impulse. Musiker aus der Region machen seit vielen Jahren mit ihren innovativen und professionellen Projekten international von sich reden“, sagt die Sprecherin der Initiative, die mit ihren Veranstaltungen diese Entwicklung weiter fördern will. Bereits im dritten Jahr bietet das Netzwerk kreativen Köpfen der Region die Gelegenheit, ihre Konzepte vorzustellen. Heute und morgen präsentiert das Jazzwerk mit der Andreas Wahl Experimentle Band, Rosani Reis und Cosmic Delivery drei Formationen, die nicht nur die stilistische Vielfalt der hiesigen Jazzszene repräsentieren, sondern auch international Akzente setzen.

Diese Musiker stehen für eine junge Jazz-Generation, die das Ruhrgebiet zum Ausgangspunkt ihres kreativen Schaffens auserkoren hat. Andreas Wahl, der seine Band schwäbisch korrekt „Experimentle“ nennt, schätzt die hiesige Szene auf mehrere hundert Musiker. Was sich nach Wahls Ansicht auch an internationalen Festivals ablesen lässt. Neben ortsansässigen Formationen, der üblichen Pariser und polnischen Szene, sind regelmäßig etliche Gruppen aus dem Revier anzutreffen. Was aber nur den Laien erstaunt. Denn neben den verschiedenen Jazzfachrichtungen der Hochschulen bietet die Region für die Jazzer einen strategisch günstigen Ausgangspunkt: „Köln, Paris, Amsterdam und Hamburg, das ist alles gut zu erreichen“, weiß Wahl, der allerdings vor 16 Jahren nicht deswegen hier landete – die Liebe lotste ihn nach Essen, wo er wegen „der Mentalität, dem speziellen Humor, diesem sehr Eigenen“ der Region schließlich blieb.

Zum Jazz fand Wahl schon als 16-jähriger „Revoluzzer“: „Das hat meinem Lebensgefühl entsprochen – diese Freiheit, alles zu dürfen, und dass es keine falschen Töne gibt.“ Heute lebt der 39-Jährige im eigenen Haus mit Freundin und zwei Kindern. Dieser Spagat drückt sich auch in seiner Musik aus. Einerseits Formalismus, Klarheit, Disziplin. Andererseits ausreichend Freiraum für die anderen vier Musiker, um in den umfangreichen, nach vorne strebenden Arrangements ihre Improvisationen ausleben zu können. Einen Freiraum, den auch der Saxofonist Veit Lange braucht, um sich „improvisierend aus dem Fenster zu lehnen“. Lange gehört neben der Experimentle Band auch dem Ensemble von Cosmic Delivery an. Die neunköpfige Formation wildert in den Regionen des Jazz, des Hip-Hop und Funk sowie in angrenzenden Genres und dreht auch mal am Plattenteller. Die Gruppe ist mit der Zeit eng zusammengewachsen: „Da gibt es nichts mehr zu proben“, behauptet der 37-jährige Lange. Jeder Auftritt sei quasi ein Unikat. „Man kommt auf die Bühne und gibt Gas, improvisiert. Und das aus einem Gefühl heraus, selbst nicht derjenige zu sein, der die Musik produziert.“ Die Musik sei einfach da, sagt er. Man schöpfe nur das ab, was da ist und „liefert das dann ab.“

Diese Momente fallen bei Lange in die Kategorie „forschen“. Der Folkwang-Absolvent stöbert überall. Er sucht selbst bei Klassikern wie Bach und Mozart nach Anregungen für sein Spiel mit Saxofon und Klarinette. Die musikalischen Wurzeln von Rosani Reis hingegen liegen in ihrer ursprünglichen Heimat, dem brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. In der Bergbauregion wird nach Gold und Edelsteinen geschürft. Diese Erfahrungen machen die Menschen dort verwandt mit den Menschen im Revier: „Die Offenheit, Direktheit und der ehrliche Umgang der Leute hier hat was Gemeinsames mit meinem Volk“, sagt die Sängerin, deren Musik, die Musica Popular Brasileira, zum Jazz gezählt wird. Das trifft den Stil am besten – im Gegensatz zum schwammigen Begriff „populär“. Außerdem bestehen musikalische Verwandtschaften, „in der Harmonie, der Formation und bei den Abläufen“, sagt Rosani Reis, die in Gelsenkirchen wohnt und nur ein Beweis ist, wie lebendig die Jazz-Szene an der Ruhr ist.

Heute: 20:00 Uhr, Essen, KatakombenMorgen: 20:00 Uhr, Dortmund, DepotInfos: 0231-528385